Qual und die Prokrastination

Obwohl es ein ungewöhnlich warmer Herbsttag war, hockten Qual und ich in unserer unaufgeräumten Bude. Zumindest ihm schien dieser Umstand überhaupt nicht zu schmecken, pausenlos schwirrte er in die Küche und wieder zurück. Leider hatten wir keine andere Wahl: Eine Hausarbeit, die bis zum Folgetag abgegeben werden musste, zwang mich, weiter vor dem Computer zu verharren. Nichtsdestotrotz unternahm Qual alle naselang den Versuch, mich vielleicht doch noch für wenigstens ein kleines Stündchen nach draußen zu bewegen.

Entnervt fragte er irgendwann: „Wieso weiß ich eigentlich erst jetzt von dieser komischen Arbeit? Die hast du nie erwähnt!” Etwas verlegen musste ich gestehen: „Die habe ich schon vor einer ganzen Weile aufbekommen, da bist du, glaube ich, gerade mal hier eingezogen.” Hätte Qual Augenbrauen gehabt, hätte er sie in diesem Moment verzogen. „So lange schon? Dann müsstest du doch fast fertig sein?!” Ich schüttelte den Kopf. „Schön wär’s, aber blöderweise bin ich ein Meister der Prokrastination …” Qual ließ sich enttäuscht nach unten sinken. „Na toll. Wann hast du angefangen?” „Ach, schon vor Ewigkeiten. Ist bestimmt schon drei Stunden her.” Wir schauten beide betreten zu Boden. Er, weil ihm langsam dämmerte, dass es vor der Dämmerung nichts mit einem Herbstspaziergang werden würde, und ich, weil mir klar war, dass sogar ich es diesmal mit dem Aufschieben übertrieben hatte.

„Ich kann halt nur unter Druck mit Hochdruck arbeiten”, bemühte ich mich um eine Erklärung. Ich hätte sie mir besser kneifen sollen. Denn den Blick, den mir Qual daraufhin zuwarf, kannte ich nur zu gut. Eine Mischung aus Mitleid und Unverständnis gegenüber der menschlichen Rasse starrte mich an. Ernsthaft: Qual gab dem Wort intensiv eine völlig neue Dimension. Fang bloß nicht an zu schwitzen, dachte ich mir, gleich muss ich mir wieder eine seiner Weisheiten anhören.

Qual atmete tief ein und sagte: „Jetzt fang bloß nicht an zu schwitzen und hör mir zu! Dass du es nicht hinbekommst, einfach deutlich früher mit solchen Dingen zu beginnen, ist die eine Sache. Aber warum merkt ihr Menschen nicht, dass ihr bereits total auf Leistung, Druck und daraus resultierend Leistungsdruck gepolt seid?

Ständig Termine, Besprechungen, Projekte und Abgabetage. Und am besten per Smartphone stets erreichbar sein. Manchmal mag das alles ja irgendwo sinnvoll sein, aber allgemein gesehen macht sich die Menschheit das Leben schwerer als nötig.” Irritiert hakte ich nach: „Aber wie soll’s denn anders gehen? Ohne ordnende Mechanismen würde doch jeder tun, was er will. Beziehungsweise gar nichts. Kein Student der Welt macht doch auch nur irgendeine Hausarbeit, wenn der Dozent nichts einfordert.” Qual tat so, als würde er einen Buzzer drücken. „Tröööööööt! Falsche Antwort! Im Idealfall studiert man, weil die eigenen Interessen abgedeckt werden und/oder man damit später den Traumjob ausüben kann. Wer in so einer Situation ist, der strengt sich auch an. Das sagt ja schon das Wort Studium an sich: Lateinisch studere für sich um etwas bemühen.

Und wer dann, die Selbstmotivation weiterhin vorausgesetzt, ohne Druck agieren kann, nutzt doch erst wirklich seine Kreativität. Wie eine Mimose entfaltet er stressfrei seine Blättchen und kann viele Sonnenstrahlen einfangen. Doch lass dich von einer Hausarbeit erschüttern, und deine Blätter zucken zusammen und du lebst nur noch lustlos vor dich hin. Zugegebenermaßen veranschlagt man so vielleicht mehr Zeit als im sonst üblichen Termin-Korsett. Aber mal ehrlich: Deine Arbeit ist für den Fortbestand deiner Art so bedeutsam wie eine Scheibe zart schmelzender Hinterzartener Käse für das Fortpflanzungsverhalten der südbolivianischen Bergziege.

Ich weiß, ich bin Utopist, aber wäre eine Insel voller Künstler, Querdenker und Freigeister, die alle tun könnten, was ihnen beliebt, nicht einfach traumhaft? Um das nackte Überleben geht es bei der humanoiden Spezies eh schon längst nicht mehr, und Ressourcen werden irgendwann sowieso komplett maschinell abgebaut und verarbeitet werden. Bleibt genug Zeit für allerlei Tiefgründiges. Einen riesigen Pool an Ideen besäße dieses Völkchen. Nennen wir es das Volk der Prokrasti, es wäre dann quasi eine Prokrasti-Nation. Was meinst du?“ „Klingt fabelhaft“, antwortete ich auf seinen Monolog. Qual nickte und schaute betreten auf den Boden. „Leider wird es das so oder so nie geben. Allein schon deshalb nicht, weil die Staatsgründung ständig prokrastiniert werden würde.”

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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