Qual und der Schlaf

Eines frühen Morgens schlurfte ich schlaftrunken in meinen Hausschlappen in Richtung Küche. Ich hatte tierische Kopfschmerzen, doch der verführerische Geruch von aufgebackenen Brötchen lag in der Luft und zog mich magisch an. Mit der passenden Schminke im Gesicht und nach vorn ausgestreckten Armen hätte ich in diesem Augenblick wohl einen prima Untoten abgegeben. Wobei ich bislang zugegebenermaßen eher selten Untote im Morgenmantel gesehen habe. Die Sonne war vom Zenit noch ein ganzes Stück entfernt und nicht einmal Vögel waren zu hören. Nur zwei befreundete Schnapsdrosseln torkelten nach einer anscheinend durchzechten Nacht die Straße runter. Unser Wohnviertel befand sich also, abgesehen von einigen Ausnahmen, nach wie vor in einer mehr oder weniger tiefen Schlafphase, in der ich selbst am liebsten auch geblieben wäre.

Durch das offene Schlafzimmerfenster hörte ich die Frau von der Post, die mit ihrem Wagen immer ein paar Meter vorwärts fuhr, ausstieg, Briefe verteilte, einstieg und wieder ein Stück weiter fuhr. Ansonsten durchkreuzte nur noch das Geräusch meiner über den Boden schleifenden Latschen die Stille. Ein Geräusch, das ich über die Jahre sehr lieb gewonnen habe, ist es doch Ausdruck völliger Stressfreiheit und Gelassenheit. Fern jeder Hektik erinnert es mich zuweilen auch an das Rauschen des Meeres, dessen Wellengang ich mit meinem Schrittrhythmus selbst bestimme.

„Könntest du vielleicht mal die Beine anheben?“, fragte Qual genervt, als ich schließlich die Küche betrat. Das imaginäre Meer vor meinem geistigen Auge war sofort verschwunden. Dafür durchzuckte mich plötzlich wieder dieser höllische Schmerz und mein Schädel fing erneut an zu brummen. Ich tastete meinen Kopf ab und stellte fest, dass meine Stirn eine riesige Beule zierte. Schweigend setzte ich mich hin und sah Qual dabei zu, wie er die meiner Meinung nach viel zu dunkel gewordenen Brötchen aus dem Ofen holte. „Warum bist du eigentlich schon wach?“, wollte ich von ihm wissen.

„Der frühe Vogel fängt den Wurm, mein Lieber. Wer den Tag verschläft, kommt zu nichts. Das habe ich endlich erkannt. Mir bringt das nun leider nicht mehr allzu viel, aber für dich ist es noch nicht zu spät. Also werde ich dir ab heute bei der richtigen Einteilung deines Tagesablaufs helfen. Überlege doch mal, wie viel Zeit du in deinem Leben schlicht im Bett liegend verstreichen lässt! Deshalb habe ich mir auch erlaubt, dich zu wecken. Entschuldige die etwas unorthodoxe Art und Weise. Dein Schlaf war fester als erwartet.“ Unsere Ansichten unterschieden sich in diesem Punkt etwas, deshalb entgegnete ich mürrisch: „Ich für meinen Teil liege aber sehr gern im Bett. Und was bringt es, wenn ich zwar wach bin, mein Körper dafür aus dem letzten Loch pfeift?“ Qual feixte: „Dann mach halt das Fenster auf.“ „Was?“ „Kleiner Scherz.“ Ich wollte gerade fragen, wie er mich überhaupt geweckt hatte, als meine Beule anfing, unangenehm zu pulsieren. So muss sich Harry Potter mit seiner Narbe fühlen, dachte ich mir. War Qual also mein Voldemort? Ich verwarf den Gedanken und vergaß, was ich eigentlich fragen wollte.

„Und was sagst du zu Tieren, die Winterschlaf halten?“, setzte ich das Gespräch nach einer Weile fort. „Verpassen die etwa nichts?“, „Nein, wieso? Im Winter gibt es ja auch nichts Wichtiges, was man nicht verpassen dürfte. Es ist kalt, der ganze Tag fast nur dunkel und die Landschaft ist oftmals ziemlich monoton in weiß gehalten. Ein verpasster Sommer hingegen wäre weitaus schlimmer.“ Ich dachte nach. „Wenn du mich fragst, ist trotzdem nicht die effektive Dauer, sondern die Qualität der Lebenszeit entscheidend. Drei Tage Abenteuerurlaub würde ich beispielsweise jederzeit zwei Wochen Ferien daheim vorziehen. Letztlich ist es nicht entscheidend, wie viel Zeit man hat. Vielmehr muss man die vorhandenen Sekunden, Minuten, Stunden und Tage richtig nutzen. Und mein Gefühl sagt mir, dass bis zum Mittagessen schlafen jetzt eine sehr gute Idee ist.“ „Kein Problem“, sagte Qual, die Augen verdrehend, und haute mir zum zweiten Mal an diesem Tag die Bratpfanne auf den Kopf.

Stiltest: Sibylle Berg

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