Qual und der Wecker

„Aufstehen, wir haben verschlafen!“, schrie Qual aufgeregt. Mühsam öffnete ich meine verquollenen Augen. „Wir haben was?“, grummelte ich ins Kopfkissen. „Verschlafen, verpennt, nicht pünktlich aufgewacht. Nenne es wie du willst, aber wir müssen los“, sagte Qual stakkatoartig, während er hektisch durch das Zimmer zischte. Genervt drehte ich mich auf die Seite, sodass Qual meinen Rücken zu Gesicht bekam. „Du kannst jetzt nicht einfach wieder einschlafen!“ Aus Prinzip kommentierte ich diesen Befehl nicht, sondern tat sogar noch so, als würde ich schnarchen. „Nicht! Dein! Ernst!“, presste er fassungslos hervor. Ich grinste. Zumindest bis ich auf der Seite liegend mit einem halb geöffneten Auge auf meinen Radiowecker, den ich seit Jahren auf Reisen mitnehme, schaute.

Mühsam drehte ich die roten Ziffern in meinem Kopf in eine horizontale Position und fuhr nach der erfolgreichen Decodierung erschrocken hoch. „Ach du heiliger Bimmbamm! Geht die Uhr richtig? Wie spät ist es?“ Qual schaute mich kopfschüttelnd und mit verschränkten Flossen an. „Neun Uhr dreißig“, antwortete er schließlich. „Und wann fährt unsere Bahn?“, hakte ich aufgeregt nach. „Sieben Uhr dreißig“, seufzte Qual. „Abends?“ Abermals sah mich Qual mit verzogener Miene und leicht kopfschüttelnd an. Ratlos kratzte ich mich am Kopf. „Und was machen wir jetzt?“ „Wir fahren zum Bahnhof und suchen die nächstbeste Verbindung raus“, schlug er vor, „noch können wir halbwegs pünktlich in Hannover ankommen.“

Fünfzehn Minuten später befanden wir uns am Mainzer Hauptbahnhof. Zum ersten und bis heute einzigen Mal standen wir vor einem DB Reisezentrum und hatten ernsthaft vor es zu betreten. Wir hatten schon viele Geschichten über diesen sagenumwobenen Ort gehört. Man sagt, dass stets nur zwei von drei Reisenden wieder herauskommen. Aus den anderen werden per Gehirnwäsche systematisch neue Bahn-Mitarbeiter rekrutiert, die fortan seelenlos Floskeln wie Zurückbleiben bitte! und Ihr Ticket ist in diesem Tarifbereich nicht gültig! von sich geben. Dementsprechend ehrfürchtig schielten wir durch die gläsernen Türen ins Innere, trauten uns aber nicht so recht rein. Als sich eine vierköpfige japanische Reisegruppe mit vier exakt gleich aussehenden Trolleys an uns vorbei schob, gaben wir uns einen Ruck und gingen mit.

Innerhalb des Reisezentrums strömte uns ein wohlriechender Lavendelduft entgegen. Der gesamte Raum war in einem sehr hellen und trotzdem angenehmen Licht ausgeleuchtet. Als ich auf den Boden schaute, bemerkte ich, dass dort keine harten Marmorplatten mehr waren, sondern besonders weiches Moos in den Farben der Deutschen Bahn. Kleine Feen surrten an uns vorbei und spielten eine liebliche Melodie auf winzigen vergoldeten Harfen. Jedes Mal, wenn sie dicht genug an deinem Ohr vorbeiflogen, erklangen drei Töne und danach sangen sie: „Jetzt zum Sparpreis: Berlin – Hannover ab neunzehn Euro!“ Gerade wollte ich mir fünfzehn Fahrten auf Vorrat buchen, als meine Nummer, die ich übrigens ziehen musste, aufgerufen wurde. Qual und ich gingen zum ausgewiesenen Schalter, fanden aber niemanden vor. Erst bei genauerem Hinsehen erkannten wir, dass zwei lange Ohren und ein paar Haare knapp über die Höhe des Schalters hinausgingen. „Sie wünschen?“, fragte eine leicht säuselnde Fistelstimme. „Ähm, wir … also, ich meine ich, habe meinen Zug verpasst. Gibt es eine Möglichkeit das Ticket für eine spätere Verbindung zu nutzen?“ Ich legte meine Reisedokumente auf die Oberfläche des Schalters. Eine kleine Hand mit langen Fingernägeln griff danach. Papier raschelte. Eine Tastatur wurde lautstark bedient.

„Kostet achtunddreißig Euro, zählt als Zusatzticket.“ Die kleine Hand schob ein neues Ticket zu mir rüber. Beim Zurückziehen der Hand hinterließen die Fingernägel tiefe Kratzer im Holz. Ich blies ohne nachzudenken die soeben entstandene Späne weg. Dummerweise genau in die Richtung des kleinwüchsigen Bahn-Mitarbeiters. Erschrocken sah ich zu Qual. Stille. Lange Zeit Stille. „Lassen Sie das“, sagte die Fistelstimme schließlich, „und einen schönen Tag noch.“ Wir verbeugten uns und gingen zum Gleis. Dort trafen wir die vierköpfige japanische Reisegruppe wieder. Sie waren nur noch zu dritt. Wild gestikulierend schien einer aus der Gruppe den anderen erklären zu wollen, dass der fehlende Japaner bis eben noch hinter ihm war. Er hätte aber genauso gut erklären können, wie er letztens den Brokkoli-Auflauf gemacht hat. Logischerweise verstanden wir kein Wort. „Weißt du was“, begann Qual, „ich glaube, dass die Bahn serienmäßig Wecker mit Fehlfunktion produziert und damit verzweifelte Kunden ins Reisezentrum treibt. Es sind dann quasi keine Wecker, sondern Schläferzellen. Aber ich kann mich auch irren …“

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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