Qual und der Schmetterlingseffekt

Gestern gingen Qual und ich gemeinsam zum Wahllokal. Dabei hatte ich wirklich lange überlegt, ob ich überhaupt wählen gehen sollte. Schließlich sind rechtsextreme Parteien landesweit betrachtet mittlerweile angenehm erfolglos, sodass mein oberstes politisches Ziel erfüllt und mein Zutun in dieser Hinsicht eigentlich nicht mehr unbedingt notwendig ist. Und mich bei den anderen etablierten Parteien für eine beziehungsweise zwei mit voller Überzeugung zu entscheiden, sah ich mich außerstande. Selbst auf dem Weg zum Lokal diskutierte ich noch mit Qual.

„Ich sage ja nicht, dass ich mich nicht für Politik interessiere, im Gegenteil. Aber die Parteien gleichen sich für mich in vielen Punkten immer weiter an. Dann heißen die einen zwar immer noch Boskop und die anderen Braeburn, aber letztlich sind es doch alles Äpfel“, bemühte ich mich um einen passenden Vergleich, „und dann bleibe ich bei meiner Meinung: Hauptsache nicht braun und Mus kannst du aus allen machen.“ „Mag sein. Allerdings sind manche bio und andere gespritzt“, entgegnete Qual. „Fallobst hast du sowieso bei jeder Sorte“, gab ich zu bedenken. Qual schüttelte verständnislos den Kopf. „Früher hat man noch für politische Partizipation gekämpft! Und was machst du? Allerorten gingen Leute auf die Straße und forderten ihr Recht auf Demokratie ein, notfalls blutig.“ „Damals gab es auch noch kein Internet, da fand man generell alles spannender“, scherzte ich.

Wir erreichten den Kindergarten, der für unseren Wahlkreis zum Wahllokal umfunktioniert wurde. Die Sonne schien, ein paar Vögel zwitscherten auf Ästen sitzend und ein Rentnerpärchen spazierte Arm in Arm an uns vorbei. Drinnen begrüßten mich drei Damen, von denen die erste meinen Ausweis kontrollierte, die zweite mir meinen Wahlschein überreichte und die dritte nur noch freundlich nickte, als wollte sie mir viel Glück wünschen. Ich ging zur einzigen freien Wahlkabine. Wobei Kabine das falsche Wort dafür ist, es war eher eine provisorische Spanplatten-Trennwand. An diese hatten anscheinend gleich mehrere Leute etwas mit Bleistift gekritzelt. Wer das wählt, ist doof stand zum Beispiel da. Daneben zeigte ein Pfeil auf ein falsch gezeichnetes Hakenkreuz. Von nebenan hörte ich jemanden einen Abzählreim aufsagen, gefolgt von einem erleichterten „Ha!“. Ich schmunzelte.

„Ob es Menschen gibt, die ihre Stimmabgabe bei Unentschlossenheit von ihrer Lieblingsfarbe abhängig machen?“, wollte ich nicht ganz ernst gemeint wissen. „Kann ich leider nicht ganz ausschließen. Frage mich allerdings, was passiert, wenn infolge von unüblich vielen Parteigründungen in Zukunft keine tollen Farben mehr übrig sind.“ Ich dachte nach. „Bündnis 2020: Die Neongrünen? Da steckt immerhin das Wort neo drin.“ Qual kicherte.

Ich setzte meine Kreuze und wir verließen den Kindergarten. „Das Komische an so einer Wahl ist ja, dass da monatelang so ein Gewese darum gemacht wird und dann ist aber alles ganz schnell vorbei“, bemerkte ich. „Wie meinst du das?“, hakte Qual nach. „Naja, ich habe gerade nicht das Gefühl einen bedeutenden Beitrag für den Fortbestand und die Entwicklung unseres Landes geleistet zu haben.“ Er pflichtete mir bei: „Stimmt schon. Ist mehr so eine Art Schmetterlingseffekt. Denn die eine entscheidende Stimme mehr zugunsten eines noch sehr jungen Politikers kann ihm den Weg in den Bundestag ebnen und damit vielleicht zu einer beispiellosen Karriere verhelfen, an deren Ende er womöglich sogar Bundeskanzler wird. So musst du das sehen. Ich bin jedenfalls froh, dass du doch wählen gegangen bist, auch wenn sich jetzt für dich natürlich noch nicht so viel geändert hat.“ Und so gingen wir im Mondschein nach Hause, während ein paar Rentner auf Ästen sitzend zwitscherten und ein Vogelpärchen Arm in Arm an uns vorbeispazierte.

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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