Qual und die Ausnahmesituation

„Es muss doch bald wieder vorwärts gehen“, hörte ich jemanden ein paar Meter entfernt sagen. „Nie im Leben, das dauert noch eine ganze Ewigkeit“, erwiderte eine hektische Frauenstimme. „Warum sagen die uns nicht Bescheid?“, beschwerte sich ein Dritter. Mehrere Menschen gingen eilig auf und ab. Immer wieder wurde lautstark diskutiert und analysiert, nur unterbrochen von nicht jugendfreien Flüchen.

Mühsam öffnete ich meine Augen und sah mich noch ein wenig benommen um. Ich saß in einem Zug. Beinahe sämtliche Passagiere standen wild gestikulierend im Gang und quasselten wie ein aufgeregter Hühnerhaufen. Nur eine ältere Dame mit weißem Haar und goldener Nickelbrille häkelte milde lächelnd vor sich hin. Im Vergleich zu den anderen wirkte sie wie ein Ruhepol. Unsere Blicke trafen sich. Ich nickte ihr zu. Sie hatte auffällig rote Lippen. Vielleicht, weil ihre weißen Haare und ihre fahle Haut so einen starken Kontrast dazu gaben. Qual konnte ich nirgends entdecken.

Bild: Carolin Rauh

Bild: Carolin Rauh

Erst jetzt schaute ich aus dem Fenster. Statt vorbeiziehender brandenburgischer Landschaften bot sich mir nur der Anblick einer im Nebel liegenden Pferdekoppel, in der einsam ein Esel stand. Scheinbar gelangweilt kaute er sein Gras, seinen Kopf Richtung Zug gewendet. Womöglich beobachtete er uns schon eine Weile. Ohne genau zu wissen warum, winkte ich ihm zu. „Wie lange stehen wir bereits?“, fragte ich die Dame. Beinahe entschuldigend zuckte sie mit den Achseln. „Tut mir leid, Jungchen, die Zeit spielt für mich keine Rolle mehr.“ Verständnisvoll nickte ich ihr abermals zu.

Plötzlich wurde es am anderen Ende des Waggons lauter. Der Hühnerhaufen bildete eine große Menschentraube um die Schiebetür zum nächsten Waggon. „Gleich wird der Zugbegleiter ihnen eröffnen, dass wir hier vorerst festsitzen“, murmelte mir Qual ins Ohr. Ich fuhr herum. „Qual! Da bist Du ja!“ Ich drehte mich wieder zur Schiebetür, als sich diese nur einen Augenblick später mit einem trotz der vielen Menschen hörbaren Zischen öffnete. Wie von Qual prophezeit, trat der Zugbegleiter von Passagieren umringt herein und verkündete: „Liebe Fahrgäste! Leider haben wir ein technisches Problem. Wir sind bei voller Fahrt mit einer Schneeflocke kollidiert. Wir müssen davon ausgehen, dass der Zug erhebliche Schäden aufweist und sich die Weiterfahrt bis auf Weiteres verzögert.“

Die Menge reagierte wie ein aufgebrachtes Bienenvolk, dessen Nest man mit einem Stock bearbeitet hatte. „Ich habe Kinder zu Hause!“, wehklagte eine Frau. „Können Sie denn gar nichts machen?“, hoffte ein junger Typ auf einen Ausweg. Ich schaute auf mein Handy: Kein Netz. „Ich muss Sie enttäuschen“, begann der Zugbegleiter, „anscheinend sind mehrere Züge auf dieser Strecke mit Schneeflocken kollidiert, die Evakuierung wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Das war zumindest das, was ich vor dem Ausfall der Kommunikationssysteme erfahren habe. Wir stecken in einer absoluten Ausnahmesituation, aber bitte bewahren Sie Ruhe.“

Kaum war die letzte Silbe seinen Lippen entwichen, schien das bei den Passagieren eine Art Beschwörungsritual in Gang gesetzt zu haben. Denn wie von der Tarantel gestochen, rissen sich Männer wie Frauen die Kleider vom Leib, trugen den gleichermaßen verdutzten wie hilflosen Zugbegleiter auf ihren Schultern in den nächsten Waggon und skandierten dabei immer wieder: „AUSNAHMESITUATION! AUSNAHMESITUATION!“

Die Dame, die ich bis dato noch als Ruhepol eingestuft hatte, verzierte ihr Gesicht mithilfe ihres Lippenstifts und einer Packung Portionssenf aus dem Bordbistro mit einer Art Kriegsbemalung, ehe sie mit einem schrillen Jagdschrei ebenfalls nach draußen hetzte. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Qual! Was machen wir jetzt bloß?“ Keine Antwort. Ratlos schaute ich in die Richtung, in der ich ihn bis eben noch vermutet hatte. Ein plötzlich aufloderndes Feuer außerhalb des Zuges nahm meine Aufmerksamkeit in Anspruch. Jemand hatte mehrere Sitze ausgerissen, gestapelt und angezündet. Verwundert rieb ich mir die Augen. Um das Feuer herum tanzte Qual!

Zu ihm gesellte sich schnell die Kriegs-Oma, die die Mütze des Zugführers als Trophäe auf dem Kopf zu tragen schien. Kurz darauf erreichte auch die Horde mit dem bemitleidenswerten Zugbegleiter die Feuerstelle. Sie fesselten ihn mit einem Seil, das sie irgendwo auf der Koppel gefunden haben mussten, und ließen ihn kopfüber vom Ast eines Baumes über das Feuer hängen. Danach bewegten sich alle im Kreis um die Flammen und sangen wieder: „AUSNAHMESITUATION! AUSNAHMESITUATION!“ Entschlossen zu handeln, wendete ich mich vom Fenster ab und konnte gerade noch im peripheren Blickfeld erkennen, wie ein Knüppel auf meinen Kopf herabsauste. Dann wurde mir schwarz vor Augen.

Als ich wieder zu mir kam, schreckte ich vom Sitz hoch. Überrascht sah Qual mich an. „Was hast Du?“ „Der Zugbegleiter! Die Oma! Alle verrückt!“, presste ich panisch heraus. Mit ernster Miene sah Qual mich an. Ich schaute keuchend aus dem Fenster. Draußen rauschten in gleichbleibendem Tempo brandenburgische Landschaften vorbei. „Hab ich …?“, deutete ich an. „… alles nur geträumt?“, beendete Qual meinen Satz. „Wahrscheinlich.“ Ratlos kratzte ich mich am Kopf, als ich zur Dame mit den weißen Haaren rüber sah. „Entschuldigen Sie bitte“, sprach ich sie höflich an, „Sie haben da etwas Senf auf der Wange.“

Stiltest: Georg Trakl

FacebookTwitterGoogle+Email

Dampf ablassen!