Da Quals Alltag im Allgemeinen nicht besonders spannend verlief und er schon längere Zeit nicht mehr das Meer gesehen hatte, entschlossen wir uns eines Tages, eine zweiwöchige Tour durch Frankreich mit Ziel Atlantik zu unternehmen.
Tag 1
In einer Nacht-und-Nebel-Aktion fuhren wir spontan los. Nach mehreren Stunden im Auto passierten wir schließlich bei Sonnenaufgang die französische Grenze und erreichten das malerische Straßburg.
So spontan wie wir losgefahren waren, so spontan hatten wir anscheinend sämtliches Kartenmaterial zu unserer Reise daheim gelassen. Der erste verbale Kontakt mit einem Einheimischen zur Erfragung des Weges war demnach unvermeidlich und geriet erwartetermaßen zum Super-GAU. Mühsam hatte ich im Vorfeld meinen Sprachschatz aus der Schulzeit zusammengepuzzelt. Doch statt nach der genauen Richtung zu fragen, fielen mir nur sinnlose Wortgruppen ein wie Artur est un perroquet und l’exode rural.
Mein Gegenüber, stereotypisch ausgestattet mit Baguette unter dem Arm und Baskenmütze auf dem Kopf, hörte sich das ganze zwei Minuten lang an, bekam dann anscheinend envie de vomir und rannte im Zickzack davon.
„Hast du ja super hinbekommen”, kommentierte Qual das Geschehen.
„Ich habe Hunger”, entgegnete ich, immer noch etwas betreten, „lass uns etwas essen gehen.” Froschschenkel, Austern, Canard a l’Orange … beim bloßen Gedanken an solch kulinarische Köstlichkeiten schnalzte meine Zunge wie eine Peitsche im SM-Studio.
Doch die Realität holte uns auch hier bald ein. Mega Döner Grill stand an einem Schild. Ich ließ meinen Blick schweifen. Die Straße hinunter befand sich rund ein Dutzend dieser Einrichtungen, die im Namen eine beliebige Kombination der Wörter Mega, Döner, Grill und Kebap enthielten. War es das mit der weltberühmten Gourmet-Schmiede Frankreich? Geraten die Franzosen wegen der Gerät, das auch ihre Baguettes schweißfrei schneidet, in die Bredouille?
Desillusioniert suchten wir Zuflucht zu einem Bistro, das sowohl mit deutscher als auch französischer Küche warb. In einem ersten Anflug von Heimweh bestellten wir beide Kartoffelpüree, weil es uns an unseren riesigen Vorrat an Pfanni-Packungen im heimischen Küchenschrank erinnerte, die wir im wahrsten Sinne des Wortes noch nie angerührt hatten,.
„Was die hier wohl ins Kartoffelpüree tun?”, fragte mich Qual, der ein außerordentlicher Fan von Muskatnuss war, mit eindringlichem Blick. Ich verstand seine Mimik. Mit einer Handbewegung signalisierte ich dem Kellner meinen Redebedarf. Ob es an meiner falschen Grammatik, meinem verzweifelten Blick oder meiner zittrigen Stimme lag, schnell wurde ich als Deutscher identifiziert. Fortan nannte mich der Kellner nur noch Herr Müller. Nachdem ich seine Antwort auf die Frage nach den Zutaten zunächst nicht ganz verstanden hatte, wiederholte er freundlicherweise noch einmal und war dabei Louis de Funès nicht unähnlich: „Je répète, Herr Müller, ich wiederhol’. Ein Kilogramm Kartoffeln, ein Liter Milch, drei Eier, neunzig Gramm Butter, Salz und … und … Muskatnuss! Muskatnuss, Herr Müller!“1
Qual grinste zufrieden und freute sich innerlich wohl schon auf die nächsten dreizehn Tage.
1Wem das nicht bekannt vorkommen sollte, dem empfehlen wir den Film Le grand restaurant, auch bekannt unter dem deutschen Titel Scharfe Kurven für Madame.
Stiltest: Thomas Hettche