Vor gut einer Woche hatte gleich um die Ecke eine neue Videothek aufgemacht. Kurze Zeit später fand Qual heraus, dass der Laden nur deshalb so günstig Filme verleihen und auch verkaufen konnte, weil man dort hauptsächlich mit Raubkopien arbeitete. Aufgefallen war ihm diese Tatsache, als mehrere Streifen, die er sich für seinen geplanten Italo-Western-Abend von mir besorgen ließ, nur englische und thailändische Menüs aufwiesen und durchweg in ein 4:3 Bildformat gepresst waren. Soweit ich weiß hat er seinen Abend dennoch durchgezogen. Zumindest kann man seitdem „Für eine Handvoll Dollar (ไม่กี่ดอลลาร์”) auf thailändisch als Notiz auf dem Kühlschrank stehen sehen, gefolgt von einer Liste der benötigten Produkte für unseren nächsten Einkauf (กระดาษชำระมะเขือเทศช็อคโกแลตสบู่).
Konfrontiert mit den Ergebnissen unserer Ermittlung und unter der Last der Beweise versprach uns der Betreiber seine Videothek unser ganzes Leben lang kostenlos nutzen zu dürfen. Das Gespräch dazu fand in einem spärlich beleuchteten Hinterzimmer statt. Der Lichtkegel einer kleinen Lampe, die vom Luftstrom eines großen Ventilators in eine rhythmische Bewegung gesetzt wurde, zeigte abwechselnd auf den in etwa 43-Jährigen und uns. Obwohl es nicht zuletzt wegen dem Ventilator ziemlich kalt im Raum war, rann ihm der Schweiß sturzbachartig von der Stirn herunter. Sein äußerst voluminöser Oberlippenbart schien dabei wie ein Staudamm zu wirken. Fasziniert von diesem Schauspiel starrten Qual und ich minutenlang ausschließlich auf den Bart des Videothekars. Unser Schweigen machte ihn nur noch nervöser, wodurch er noch stärker schwitze, was uns wiederum dazu brachte noch intensiver zu starren. Eine prima geschlossene Kausalkette war das, die er erst durchbrach, als er mit zittriger Stimme sein Angebot wiederholte. Zunächst waren wir uns nicht ganz einig, was wir von diesem cineastischen Schweigegeld halten sollten.
Waren wir verpflichtet diese Straftat anzuzeigen? Andererseits schien sich niemand großartig über die Qualität der Filme aufzuregen. Dafür war der Preis schlicht zu gut. Und wir überlegten: Vielleicht hat der Mann Frau und Kinder, unter Umständen gleich mehrere, zu ernähren. Konnten wir wirklich das Schicksal einer sich liebenden Familie, die womöglich mit Hoffnungen und Träumen hergezogen war und mit der Videothek bestimmt das Studium der Kinder, die mal Astronaut und Bundeskanzler werden würden, finanzieren wollte, so einfach selbst bestimmen? „Werfen wir eine Münze“, schlug Qual vor. „Aber damit entziehen wir uns nur der Verantwortung und legen die Entscheidung in die Hand einer unbeeinflussbaren Macht“, gab ich zu bedenken, „egal wie gern wir sonst auf diese Weise die Dinge regeln.“ Qual legte seinen Kopf quer und dachte erneut nach.
„Mir fallen gleich mehrere thailändische Sprichwörter hierzu ein“, grinste er schließlich. Neugierig horchte ich auf. „Das erste lautet: Wenn man eine Stadt betritt, wo die Bürger mit den Augen zwinkern, muss man mitzwinkern. Wenn sich also sonst niemand an den Geschäftsmethoden hier stört, tun wir das auch nicht. Das nächste: Sprechen ist zwei Groschen wert, Schweigen sind goldene Taler. Ihn zu denunzieren hat für uns keinen Vorteil, im Gegenteil. Wir belasten unser Gewissen, wenn wir seine wirtschaftliche Existenz vernichten. Und die DVDs sind für uns dann ohnehin gestorben. Und das letzte: Auch die Fische des Königs haben Gräten. Niemand ist perfekt. Und wem schadet er schon großartig? Der Industrie? Die wird es verkraften können. Wollen wir Gnade vor Recht ergehen lassen?“ Ich nickte und teilte dem Besitzer unsere Entscheidung mit. Völlig ermattet lächelt er kurz und ließ dann seinen Kopf auf den Schreibtisch fallen. Als er so da lag und innerhalb von Sekunden einschlief, wussten Qual und ich, dass wir das Richtige getan hatten. „Die thailändische Kultur ist eine in vielen Belangen nachahmenswerte. Ihre Sprichwörter stecken voller Weisheit. Eins passt übrigens bestens zu dir: Wenn du nicht gut tanzen kannst, sollst du nicht die Schuld auf die Flöten und Trommeln schieben.“
Stiltest: Peter Handke