Seit einer Woche verbrachte ich von früh bis spät jede freie Minute am Rechner. Mein Umfang an sozialen Handlungen beschränkte sich auf das morgendliche Grüßen des Briefträgers und den Kontakt mit den freundlichen Mitarbeitern vom Lieferdienst unseres Lieblings-Italieners. Dieser befand sich übrigens gleich in der Straße nebenan. Abgesehen vom Hereinholen der Post, was ich mittlerweile nur noch in Bademantel und Pantoffeln tat, habe ich das Haus nicht ein einziges Mal verlassen. Der Kühlschrank war, mit Ausnahme von zwei zu jeweils drei Vierteln geleerten Dosen mit halbierten Pfirsichen und einem selbst angerührten Joghurt mit handverlesenen Johannisbeeren, so leer wie die Berliner S-Bahn im Berufsverkehr voll ist.
Da sowohl die Dosen mit den Pfirsichen als auch der Joghurt längst derart verschimmelt waren, dass die Bakterien dort nonstop eine lautstarke Fiesta am Laufen hielten, entschloss sich Qual aus Kostengründen, den Stecker des Kühlschranks zu ziehen. Die Bakterien murrten kurz, als das ihnen bekannte beruhigende Brummen aufhörte, setzten ihre exzessive Party aber alsbald fort. Schimmelhochjauchzend, sozusagen. Qual hatte genug und stürmte in mein Zimmer:
„Könntest du mir bitte sagen, was du hier eigentlich die ganze Zeit treibst?” Statt mir das ins Gesicht zu sagen, starrte Qual verdutzt in die Dunkelheit. Ich hatte schon lange die Jalousien heruntergelassen und jede denkbare Lichtquelle entfernt. Mein PC surrte leise, ansonsten waren lediglich die feiernden Bakterien aus der Küche zu hören.
Erst nach einer Weile entdeckte er mich, in der Ecke sitzend, versteckt hinter fünf mannshohen Türmen aus Pizzaschachteln, und nur durch das Leuchten des Bildschirms verraten. Schwerfällig bemühte ich mich, gerade zu sitzen, und sah zu ihm auf. Mein Gesicht muss dabei in etwa so beleuchtet worden sein, wie beim Erzählen von Geschichten am Lagerfeuer mit der Taschenlampe unter dem Kinn. „Rollenspiele!”, keuchte ich beinahe unverständlich, da sich die Muskeln meiner Zunge während meiner asketischen Zockerphase beinahe vollständig zurückgebildet hatten. Qual schaute mich fragend an. „Rollenspiele? So ein sexuelles Arzt-und-Patient-Ding?” Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin ein Soldat auf Level 48 und rette den Hauptstadtplaneten Coruscant vor dem bösen Einfluss der Sith.” Quals Miene drückte nach wie vor Irritation aus. „Mir egal, welchen erotischen Neigungen du nachgehst, aber das muss aufhören!”
Ich klärte ihn auf: „Aber nein, das ist ein Online-Rollenspiel, ein Game! Ich agiere gleichzeitig mit tausenden Spielern weltweit!” „Wozu? Reicht dir das normale Leben nicht?” „Das verstehst du nicht. Ich kann jemand sein, der ich im realen Leben nicht bin. Ob nun Jedi, Krieger oder Zauberer.” „Warum wollt ihr Menschen immer in Parallelwelten flüchten? Missfällt es euch so sehr, ihr selbst zu sein? Das ganze Leben ist ein Rollenspiel, warum seht ihr das nicht ein? Ich lasse nicht zu, dass du hier derart verkommst. Jetzt zieh dich erstmal an. Und dann geh was einkaufen.” „Wie viele Erfahrungspunkte gibt das?”, fragte ich umgehend. Doch sofort begriff ich. Ich war zu einer seelenlosen Maschine geworden, die stakkatoartig automatisierte Tastenkombinationen zur Steuerung meines virtuellen Egos von sich gab und damit den eigenen Untergang von Level zu Level nur noch mehr zementierte.
Qual war zufrieden mit meiner Läuterung, konnte sich eine letzte Bemerkung allerdings nicht verkneifen: „Wenn du unbedingt eine Story brauchst: Du bist Harry Propper, angestellter Toilettenschrubber in Hogwarts, und bekämpfst den Urinstein der Greisen. Und wenn du damit fertig bist – in diesem Haushalt zeige ich dir mühelos unzählige neue Quests.“
Stiltest: Melinda Nadj Abonji




Ein Stück von meiner Praxisarbeit in den Stiltest eingefügt ;D.
Johann Wolfgang von Goethe ^^.