Qual und die Ammenmärchen

Nachdem Qual und ich den ganzen Tag auf dem Weihnachtsmarkt verbracht hatten, fuhren wir abends mit dem Bus nach Hause. In diesem befanden sich bereits eine Gruppe Touristen aus Italien, eine Kaffeeklatschrunde älterer Damen, eine Handvoll Jugendlicher, die nach zu viel Glühwein aber nicht mehr wirklich ins Geschehen eingreifen konnten, und natürlich der Busfahrer.

Die Stimmung im Fahrzeug war heiter bis gelöst. Aus allen Ecken drangen laute Gespräche, so dass wir unfreiwillig alle möglichen Themen mitbekamen. Die Italiener planten offenbar den weiteren Abend, denn die einzigen uns verständlichen Wörter waren Pasta und Vino. Da jeder der Südeuropäer zeitgleich ein Handy am Ohr hielt, konnten wir allerdings nicht feststellen, ob die Gruppe miteinander kommunizierte oder ob jeder sein eigenes Date mit einer blonden Deutschen vereinbarte. In der Kaffeeklatschrunde ging es abwechselnd um das Leben in der DDR und die neuen Sonderangebote bei Aldi, Netto und allen anderen Discountern. Allgemeine Quintessenz der Unterhaltung: Rheumadecken aus Thailand für 8,99 € das Stück taugen höchstens als Schuhabtreter, und früher war nicht alles schlecht.

Der Busfahrer, der laut Namensschild Rudolph hieß und dessen Nase passenderweise auffällig rot leuchtete, schien in etwa der Jahrgang der Rheuma-Omas zu sein. Zumindest entfleuchte ihm bei jedem Witz der Damen ein kurzes, aber hörbares „HA!”. Die Jugendlichen übertrafen sich gegenseitig im inoffiziellen Wettbewerb, wem der längste Spuckefaden aus dem Mund tropft. Bevor der Speichel eines dieser menschlichen Exemplare den Boden berühren konnte, was ihn zweifellos zum Sieger gemacht hätte, hielt der Bus an.

Eine Mutter und ihre kleine Tocher stiegen zu, ebenso ein ungepflegter Mann, der es in Sachen Alkoholisierungsgrad mit den Jugendlichen hätte aufnehmen können – und zwar mit allen zusammen. „HA!”, sagte Rudolph erneut. Die frisch Zugestiegenen gesellten sich in einen Vierer-Sitzblock, der mit Ausnahme meiner Wenigkeit unbesetzt war.

Der Betrunkene trug einen mächtigen Rauschebart, der an anderen Tagen vielleicht sogar weiß war, in diesem Moment jedoch einen schmutzigen Grauton aufwies und ohnehin allerlei Gezweig und sonstige Dinge beherbergte. Bekleidet war er mit einem roten Wollpullover.

Das kleine Mädchen schaute ihn mit großen Augen an. „Mama, ist das der Weihnachtsmann?”, fragte es seine Mutter, der sofort der Schweiß auf der Stirn stand. „Habe ich das richtig gehört”, echauffierte sich Qual, „das Kind glaubt noch an den Weihnachtsmann?” “Lass sie doch, warum willst du ihr die Illusion nehmen? Und was willst du ihr stattdessen sagen? Nein, mein Kind. Die Welt ist hart und der Typ ist rotzevoll?”, fragte ich ihn. „Warum ihr Menschen nie von Anfang an Klartext sprecht, sondern zum Wohle guter Erziehung schlichtweg lügt: Zieh keine Grimassen, sonst bleibt dein Gesicht so. Spiel nicht mit dem Feuer, sonst wirst du Bettnässer. Von zu viel Sex wird man taub.” „Wie bitte?”, fragte ich ungläubig nach, denn so ein Schwachsinn war mir bislang noch nicht unter gekommen. „Oh, das letzte stimmt also”, murmelte Qual. „Reiß dich zusammen, wenn ich bitten darf“, forderte ich. Dann dachte ich ein Weilchen nach. „Pass auf, bei manchen Dingen gebe ich dir Recht, aber der Glaube an den Weihnachtsmann ist etwas, was man einem Kind nicht nehmen sollte.”

Ich beugte mich daher zu dem Mädchen vor und sagte geheimnisvoll: „Natürlich ist er das.“ Das Mädchen strahlte. „Der Klimawandel trifft uns alle“, setzte ich raunend fort, „deshalb fährt der Weihnachtsmann mit den Öffentlichen. Aber immerhin hat er seinen eigenen Fahrer dabei, nicht wahr, Rudolph?”, rief ich in Richtung Fahrerkabine. „HA!”, entfleuchte es dem Busfahrer.

Stiltest: Ildiko von Kürthy

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