Qual und das Bleigießen

Vor einigen Jahren verbrachten wir den letzten Tag des Kalenders bei guten Freunden, die zu einer kleinen Silvesterfeier geladen hatten. Es gab reichlich Nudelsalat und Würstchen, im Fernsehen lief abwechselnd Dinner for One und Ein Herz und eine Seele und an einem Tisch in einer nur mit Kerzen beleuchteten Ecke des Zimmers wurden die Ergebnisse des Bleigießens gedeutet. Die Stimmung war an und für sich ganz gut, aber nicht gerade ausschweifend. Untermalt wurde dieses Bild von zuweilen laut heulenden und plötzlich loskrachenden Feuerwerkskörpern, die die Kinder aus der Nachbarschaft schon frühzeitig zündeten.

Qual und das BleigießenDas permanente vormitternächtliche Gedonner, besonders unerträglich, wenn Briefkästen gesprengt wurden, führte allerdings dazu, dass eine Straße weiter der beinahe 90-jährige Kriegsveteran Opa Hermann, von allen nur der General genannt, einen bösen Flashback vom Russland-Feldzug zur Zeit des Zweiten Weltkriegs bekam, sein ungeladenes Luftgewehr ergriff und in einem ihm nicht zuzutrauenden Tempo – zumal mit Badelatschen an den Füßen – den Kindern hinterher rannte, die nun lauter schrien als jeder Böller heulte. Dann und wann legte Opa Hermann an, drückte ab und brüllte laut: „PENG!” Mehrere Male tat er dies. „PENG!” Bei jedem Peng tasteten die Kinder im Laufen ihren Körper ab, um zu prüfen, ob sie nicht doch schon irgendwo getroffen worden sind. Wir beobachteten das lustige Treiben eine Weile vom Fenster aus.

Leider wurde Opa Hermann dann doch ziemlich müde, so dass die für uns bis dato einzige amüsante Szene des Abends alsbald ihr Ende fand. Nun wieder beschäftigungslos, setzten wir uns auf eine alte Couch genau gegenüber der Ecke mit den Bleigießern und schauten ihnen mehr oder weniger gelangweilt zu.

„Warum sagt den Bleigießern eigentlich niemand, dass ihre Klumpen total bescheuert aussehen oder aber einfach nichtssagend? Bisher habe ich unter den fertigen Stücken nur Rührei, Kartoffelbrei und Moos gesehen”, meinte Qual schließlich. Ich studierte die Anleitung des Bleigieß-Sets und wurde stutzig: „Moos gibt’s tatsächlich. Es verspricht viel Geld im neuen Jahr.” Qual kam näher zu mir und gemeinsam lasen wir weiter. „Ich fasse es nicht”, sagte er, “es gibt wirklich so gut wie jeden Begriff. Frosch, Flugzeug, Schlange, Würfel … da muss man ja irgendwas treffen.”

Kaum hatte er das ausgesprochen, als jemand laut ausrief: „Eine FRAU! Ich habe eine FRAU gegossen!” Fragend sah Qual mich an. Ich suchte die Liste mit dem Finger ab und antwortete: „Er wird geliebt werden.” Qual schwebte gemächlich zum Tisch, begutachtete den Bleiklumpen argwöhnisch und kehrte zu mir zurück. „Also der Kerl ist definitiv verliebt. Und das Sprichwort stimmt demzufolge auch.” „Bitte was?”, bat ich ihn, sich zu erklären. „Hast du nicht gesehen, wie er seit Stunden das Mädel anhimmelt, das ihm gegenübersitzt? Er erhofft sich doch offensichtlich, dass sie seine Gefühle erwidert. Und da Liebe bekanntlich blind macht, hat er in seinem Bleihaufen genau das gesehen, was er sehen wollte. Wenn das nämlich eine Frau sein soll, dann ist es eine äußerst hässliche.”

Neugierig ging ich ebenfalls zum Tisch, nahm wie beiläufig ein Getränk, das mir gar nicht gehörte, warf dabei einen Blick auf die angebliche Frau, schlenderte zurück und setzte mich wieder hin. „Könnte auch eine einbeinige Tänzerin sein, oder eine Hexe. Eine Hexe steht für Feinde, eine Tänzerin für die Aufforderung, sich mal zu entspannen. Ob er sich nur zur Hälfte entspannen muss? Sonst hätte die Tänzerin ja beide Beine.”

Bevor wir unsere Überlegungen zu Ende führen konnten, wurde die Veranstaltung jäh unterbrochen. Denn mittlerweile hatte man fatalerweise damit begonnen, billiges Tischfeuerwerk aus dem Ausland zu zünden, welches unüblich laut knallte, was natürlich abermals Opa Hermann auf den Plan rief, der wie aus dem Nichts im Wohnzimmer auftauchte. Obwohl sein Gewehr nach wie vor nicht geladen war, stob die Menge panisch davon.

Qual und ich gingen seelenruhig zum nun leeren Tisch und probierten uns endlich auch im Bleigießen. „Was ist das?”, fragte Qual angesichts unseres Klumpens. „Sieht aus wie eine Waffe. Nur nicht übertreiben, steht dazu in der Anleitung.” „PENG!”, schrie Opa Hermann.

Stiltest: Thomas Hettche

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