Eines Abends saßen Qual und ich zusammen und schauten Weiße Wildnis, einen Dokumentarfilm aus dem Jahre 1958 über das Leben der Lemminge in der Arktis. Der sogar oscarprämierte Streifen stellt unter anderem ungeschönt dar, wie diese possierlichen Tierchen am Ende ihrer Massenwanderung geschlossen in den Massensuizid übergehen. Obwohl diese Annahme erwiesenermaßen falsch ist, hält sie sich trotzdem bis heute hartnäckig in den Köpfen, was sich insbesondere durch eine Reihe von Videospielen aus den 90ern manifestiert hat.
Auch wenn ich mir im Klaren darüber war, dass das Gezeigte, ähnlich den Wahlwerbespots von Parteien, nicht wirklich ernst zu nehmen ist, faszinierten mich die Bilder auf eine seltsame Weise. Die Vorstellung einer zu groß gewordenen Population, die völlig altruistisch und mit der Disziplin eines japanischen Samurai kollektiv aus dem Leben tritt, damit es nachfolgende Generationen besser haben, hatte für mich etwas durch und durch Edles.
Zeitgleich wurde mir bewusst, wie unwahrscheinlich es ist, dass der Mensch, ein gleichermaßen egoistisches wie ängstliches Lebewesen, ähnlich handeln würde. Mal abgesehen davon, dass es ja nun bekanntermaßen nicht einmal die mir so liebgewordenen Lemminge tun. Fakt ist: Die Ungewissheit darüber, ob nach dem Tod etwas folgt, ist für viele Menschen Grund genug, sich so lange wie möglich an alle irdischen Annehmlichkeiten zu klammern und das Leben in vollen Zügen zu genießen. YOLO als Zauberwort. Was auch ganz gut klappen mag, wenn es nicht gerade Sommer und der Zug nicht wirklich voll ist. Und der Zug außerdem nicht noch ICE heißt, was eine gewisse Ironie in sich trägt, wenn man die Abkürzung als englisches Wort liest. Hinein geboren in eine im Überfluss lebende Gesellschaft und frei geworden von den natürlichen Fesseln, die unsere Alterserwartung bislang begrenzt haben, sind wir nur noch bestrebt, letztere immer weiter zu steigern und unseren Individualismus auszuleben. Jetzt, wo es der Stärke der Gruppe nicht mehr bedarf.
„Glaubst du an ein Leben nach dem Tod?”, fragte ich Qual irgendwann einmal, in Gedanken versunken. Irritiert schaute er mich an, ohne etwas zu sagen. „Was denn nun? Ja oder nein?”, hakte ich nach. „Ich bin ein Geist! Schon vergessen?” Ich schüttelte den Kopf. „Schon klar, aber denkst du, dass das alles ist? Man verliert seine physische Hülle, wandelt ansonsten aber weiter durch die Gegend?” Qual überlegte: „Du meinst, ob es so etwas wie ein Jenseits gibt? Himmel und Hölle? Nirwana? Wiedergeburt?” Ich nickte: „Genau!” Wieder schwieg er eine Weile. „Tja. Das wüsste ich auch gerne. Fürchtest du dich denn vor dem Tod?”
Im Film sprang gerade der letzte Lemming von der Klippe ins Meer und wurde von den brausenden Wellen verschlungen. „Es ist im Kopf noch zu weit weg, um das jetzt schon sagen zu können. Wenn es dann aber so weit sein wird, hoffe ich allerdings, glücklich abtreten zu können”, gab ich zur Antwort. Qual schwebte kurz in die Küche und sagte dann: „Keine Sorge, wirst du auch. Und solltest du ebenfalls als Geist hier auftauchen, werden wir noch für eine ganze Weile viel Freude miteinander haben.”
Stiltest: Peter Handke