Im Sommer letzten Jahres wollte Qual unbedingt seine künstlerische Laufbahn voranbringen und nahm unter Pseudonym an einem Malwettbewerb des örtlichen Kindergartens teil. Sein Bild (Stillleben einer rosa Luftmatratze, die einsam auf einem zugefrorenen See liegt) fand durchaus Anklang bei der Jury, die zwar nicht aus wirklichen Kunstkennern bestand, aber immerhin die beliebtesten Erzieher des Kindergartens umfasste. So auch Frau Schmidt, von ihren vier- bis sechsjährigen Verehrern liebevoll nur Tante Rosie genannt, die landauf landab als Virtuosin im kreativen Umgang mit Obstgalt und auch mir in meiner Kindergartenzeit die eine oder andere Apfelkrone geschnitzt hatte. Außerdem habe ich nie ein menschliches Wesen noch heiße Pellkartoffeln schneller schälen sehen als Tante Rosie. Insofern war die von ihr als Juryvorsitzende unterschriebene Urkunde für Quals erfolgreiche Teilnahme gar nicht hoch genug zu bewerten. Völlig euphorisiert fragte Qual daher zu Recht, ob wir seinen jüngsten Triumph nicht in unserem Garten feiern wollen.
Am Abend saßen wir also bei Kerzenschein und untergehender Sonne zusammen und redeten über alles Mögliche. Es war immer noch angenehm warm und roch nach frisch gemähtem Rasen. Wir redeten so lange, bis es schon langsam Nacht wurde und die ersten Sterne am Himmel zu sehen waren. Selbst Qual war so ausgesprochen redselig, dass er vergaß, den eigens für diesen Anlass teuer gekauften Champagner zu servieren. Als ich ihn daraufhin ansprach, holte er dies schnell nach, ließ es sich allerdings nicht nehmen, zuvor eine kleine Rede zu halten. Dabei hielt er die Flasche in der Flosse jedoch derart ungünstig, dass deren Verschluss an einer Kerze Feuer fing. Qual schwebte panisch durch den Garten, besann sich aber rasch auf seine fehlende Anfälligkeit gegen Feuer und öffnete hastig den nun durchgeschüttelten Champagner. Der brennende Verschluss ploppte laut und flog mit ordentlichem Tempo in den klaren Nachthimmel. Bis er vollständig verglühte, konnten wir ihm eine ganze Weile hinterher schauen.
„So muss es aussehen, wenn man einen Kometeneinschlag aufnimmt und rückwärts abspielt”, sinnierte ich vor mich hin und ließ vor meinem inneren Auge abwechselnd die Katastrophenfilm-Klassiker Deep Impact und Armageddon ablaufen. Qual nickte. „Und wenn der Korken mit annähernder Lichtgeschwindigkeit gen Äther geschossen wäre und irgendwann auf die Erde zurückkehren würde, befände er sich laut spezieller Relativitätstheorie aufgrund der Zeitdilatation in der Zukunft”, ergänzte er. Erstaunt sah ich ihn an. „Manchmal leuchtet dein Intellekt auf wie ein brennender Champagnerkorken.” Qual goss uns endlich Schaumwein in die Gläser und fuhr fort: „Ich habe das auch nur in einer Dokumentation auf N24 gesehen. Verrückte Vorstellung: Die Zeit vergeht für dich langsamer, weil du zu schnell bist.” Ich widersprach: „So komisch ist das gar nicht. Autobahnraser kennen das Gefühl wahrscheinlich.” Für ein paar Minuten schauten wir einfach schweigend in den Himmel und lauschten dem improvisierten Konzert der Grillen, Grashüpfer, Heuschrecken – oder welche Insekten auch immer da zirpten, als gäbe es kein Morgen mehr.
„Und wenn wir der Korken wären? Also würdest du in der Zeit reisen wollen?”, beendete ich die Stille. Er überlegte lange. „Ich wüsste nicht, was mir das bringen sollte. Mein Leben oder besser meine Existenz ist doch gerade recht spannend, also warum viele Kapitel mit einem Satz ins Jahr 2050 einfach überspringen? Einen guten Film würdest du auch nicht bis zum Ende vorspulen. Manchmal lohnt es sich, geduldig zu sein. Die Zukunft kommt so oder so, aufhalten kannst du sie eh nicht. Und wie willst du nach deiner Rückkehr den Moment der Gegenwart genießen, wenn du von einer etwaigen düsteren Zukunft wüsstest, unfähig, irgendetwas daran zu ändern? Das Prinzip von Butterfly Effect funktioniert nicht ganz, theoretisch entstehen nur neue Parallelwelten.” „Du redest nur von der Zukunft. Was ist mit Reisen in die Vergangenheit?”, unterbrach ich ihn. „Ganz ehrlich: Wie oft hast du Und täglich grüßt das Murmeltier gesehen? Alles noch einmal zu erleben ist doch langweilig. An deiner Stelle würde ich nur zu einem Punkt in der Vergangenheit zurückreisen: in den Kindergarten, zu Frau Schmidt und ihren Apfelschnitzereien!”
Stiltest: Melinda Nadj Abonji