Während der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 gingen Qual und ich einmal zum Bäcker unseres Vertrauens, um uns unseren monatlichen Spritzkuchen und etwas zum Lesen zu besorgen. Vor uns in der Schlange standen drei Jungen, von denen jeder ein Sammelheft für Aufkleber zur WM unter dem Arm trug. Sie kauften sich jeweils drei Tüten à 5 Sticker zu je fünfzig Cent. Sofort nach dem Bezahlen wurden die Tüten hektisch aufgerissen und auf ihren Inhalt hin überprüft. Dieser schien bei keinem zum gewünschten Ergebnis geführt zu haben. Jedenfalls ließen ihre Kommentare darauf schließen.
„Jetzt habe ich Ballack schon fünf Mal, dabei spielt der gar nicht mit!“, beschwerte sich der Kleinste. Der augenscheinlich Älteste des Trios fragte: „Braucht jemand Holländer? Ich kann euch jeden geben!“ Die beiden anderen lehnten dankend ab. Geradezu verbittert sprach der Dritte in der Gruppe: „Mir fehlt nur noch Henry … nur noch Henry.“ Erst jetzt bemerkten wir, dass jeder der Jungen bereits einen dicken Stapel Sticker in der Hand hielt, der von einem Gummiband zusammengehalten wurde. Offensichtlich waren das die Exemplare, die bereits doppelt oder gleich mehrfach vorhanden waren. Ein jeder löste nämlich das Gummiband, fügte die neu gekauften Aufkleber dem Stapel hinzu und ließ ihn danach in der Hosentasche verschwinden. Traurig trotteten die enttäuschten Sammler dann vor die Tür.
Qual, der in der Zwischenzeit eine Tageszeitung für sich und ein Fußballmagazin für mich ausgesucht hatte, konnte mit diesem Sachverhalt herzlich wenig anfangen: „Wie können mit einer Selbstklebefläche ausgestattete Druckerzeugnisse derartige Emotionen auslösen?“ Ich musste nicht lange überlegen: „Das liegt wohl in unserer Natur. Wir sind eine Spezies der Jäger und Sammler. Und da man heutzutage am Tiefkühlregal eher selten jagen muss, bleibt anscheinend nur noch das Sammeln übrig.“ Qual las sich noch die Schlagzeilen anderer Zeitungen durch und fragte dann: „Hast du früher auch Dinge gesammelt?“
Ich musste schmunzeln. „Was heißt früher? Irgendwas hat man doch immer zum Sammeln. Aber ja, bei mir waren es unter anderem die Figuren aus den Überraschungseiern. Eine Figur in jedem siebten Ei, hieß es. Pustekuchen! Einmal habe ich einundzwanzig gekauft und fast nur Puzzles bekommen. Von der vielen Schokolade war mir dann auch schlecht. Und die Sticker-Problematik der Jungen ist mir ebenfalls nur zu gut bekannt.“ „Aber mal im Ernst. Was bringt das? Wie kann ein billiges Heft mit den Konterfeis diverser Personen, die einen Ball über den Rasen hetzen, die Lebensqualität erhöhen?“
Das gab mir zu denken. „Wahrscheinlich gibt es einem ein Gefühl der Sicherheit, der Greifbarkeit. Wer Fan einer Sache ist, muss das so oft wie möglich spüren. Oder sich von anderen abgrenzen, die für ihn weniger leidenschaftlich dabei sind. Das ganze Leben ist doch ein Wettbewerb.“ Qual schaute sich schon mal die Spritzkuchen an. „Und wozu sammelt man Kugelschreiber? Wie kann man denn Fan von Kugelschreibern sein? Ich behaupte, dass ihr Menschen euch bei eurer Suche nach dem Sinn des Lebens wieder eine kleine Säule gesucht habt. Etwas zu sammeln und zu vervollständigen ist doch nichts anderes als ein Zeitvertreib, der euch von eurer Ziellosigkeit ablenkt. Und sobald ihr etwas so gesehen erledigt habt, sucht ihr euch sofort etwas Neues.“
Ich blätterte im Fußballmagazin, das Qual mir ausgesucht hatte, und fand eine Gratis-Packung WM-Sticker. Neugierig machte ich sie auf. Und tatsächlich: Gleich der erste Aufkleber war Thierry Henry, einer meiner persönlichen Fußball-Helden und der letzte fehlende Sticker des Jungen, der immer noch vor der Tür stand. Ich ging mit der sicheren Erwartung ehrlicher Dankbarkeit nach draußen und reichte ihm das Bildchen hin. Der Junge schaute mich mit großen Augen an, griff aber nicht zu. Ich nickte freundlich. Da sagte er: „Danke, Alter, aber den brauche ich nicht mehr. Wir haben jetzt das neue Pokémon-Sammelheft.“
Stiltest: Melinda Nadj Abonji