Eine Freundin, die als Schwester im Krankenhaus meiner Heimatstadt arbeitet, lud mich einmal zum Tag der offenen Tür in ihre Klinik ein. Obwohl ich mich im Allgemeinen nicht sehr gerne in Krankenhäusern aufhalte, sagte ich ihretwegen zu. Schließlich hatten wir uns eine ganze Weile, genau genommen seit dem Ende unserer Schulzeit, nicht mehr gesehen. Meine Abneigung gegenüber solchen Einrichtungen stammt wohl daher, dass ein Besuch dort selten etwas Gutes bedeutet.
Vielleicht einmal abgesehen von Geburten. Doch selbst bei diesen muss man nicht unbedingt dabei sein, wenn man nicht gerade der Verursacher gewesen ist. Ein Arbeitskollege, der inzwischen mehrfacher Familienvater ist und nach wie vor irgendeinem mittelmäßigen Fußballverein aus der 3. Liga die Treue hält, meinte einmal dazu: „Es ist wie ein 1:0 in der Nachspielzeit gegen den Tabellenletzten. Es sieht nicht besonders schön aus, aber das Ergebnis ist einfach überwältigend.“
Selbstverständlich war auch Qual dabei, der sich bekanntermaßen für alles Mögliche interessiert. Bei strahlendem Sonnenschein standen wir an einem Freitag im Juli ein paar Minuten zu früh vor dem Gebäude. Obgleich schon später Vormittag, war bereits mehr los, als ich erwartet hätte. Neben einigen Schulklassen fanden sich auch zahlreiche Rentner vor dem Eingang ein, einige davon mit vollen Einkaufstüten.
Nach einer ersten sogar ziemlich interessanten Führung mit meiner Freundin durch das Haus hatten wir leider nur sehr wenig Zeit zum Reden, danach musste sie die nächste Besuchergruppe übernehmen. Wir vereinbarten, dass wir einen Kaffee trinken würden, sobald sie mit allen Gruppen fertig sei. Dadurch hatten Qual und ich noch rund zwei Stunden zur freien Verfügung. Planlos gingen wir wieder nach draußen. Eine lange Schlange erstreckte sich dort über den gesamten Vorplatz.
„Die war vorhin aber noch nicht da“, stellte Qual überrascht fest. „Ob es hier etwas umsonst gibt?“, rätselte ich angesichts des plötzlichen Menschenaufkommens. „Schwer zu sagen, ich kann nicht viel erkennen“, meinte er, „aber im Moment haben wir eh nichts Besseres zu tun.“ Statt zu fragen, stellten wir uns einfach dazu und mussten eine ganze Weile warten, ehe wir erkennen konnten, wofür überhaupt. Schließlich standen wir davor.
Es war ein mannshohes, ziemlich langes rosa Etwas, und man konnte es betreten. „Ist das ein Rekordversuch für die größte jemals hergestellte Wurst?“, fragte Qual verwundert. Ich las von einem Schild ab: „Begehbares Darmmodell: Faszination Darm, treten Sie ein!“ Lauthals lachten wir los und ernteten damit vorwurfsvolle Blicke der umstehenden Personen. „Warum findet die Begehung des Darms hier statt und nicht in Darmstadt?“, scherzte Qual. Schließlich konnten wir nicht anders und betraten das Innere. „So muss sich Pinocchio gefühlt haben, nachdem ihn der Wal verschluckt hat“, flüsterte ich nach einigen Metern. „Was soll das denn jetzt wieder heißen? Dass dir Wale zu gefräßig sind?“, erwiderte Qual beleidigt. „Nein, nicht alle. Nur du.“
Erneut musste ich laut lachen, mein Echo war daraufhin im ganzen Darmtunnel zu hören. Leider hatten nun die Schulklassen die außergewöhnliche Akustik dieses Tunnels für sich entdeckt und überboten sich gegenseitig im Schreien sinnfreier Wortfetzen. Jedes DSDS-Casting hätte in diesem Moment wie Musik geklungen. „Wir müssen hier raus!“, seufzte ich genervt.
Bedauerlicherweise kamen wir nur schrittweise voran, da die Rentner mit ihren Einkaufstüten die volle Breite des Darms einnahmen – und der etwas geräumigere Dickdarm sollte erst noch kommen. Die Sonne hatte mittlerweile fast ihren Zenit erreicht und schien erbarmungslos auf das Plastikgebilde herab. Für die Luft im Darm war das nicht gerade förderlich. Eine Horrorvorstellung wurde wahr: Im Schneckentempo durch die Nachbildung des menschlichen Verdauungstrakts wandern, in dem es mit der Zeit dank der Lebensmittel in den Tüten der Rentner um so stärker zu riechen begann, je länger man sich dieser Vorstellung hingab. Durch die zahlreichen Kurven war es zudem nur sehr schwer abzuschätzen, wie nah der Ausgang wirklich war. „In der Schule haben wir ja gelernt, dass der Darm lang ist. Aber so lang …“, rollte ich mit den Augen. „Der Lang Darma war der letzte Tsenpo, der König von Tibet“, wusste Qual. „Genau. Irgendwas in Sachen Po wäre hier in der Tat nicht verkehrt.“
Qual wollte gerade fragen, welchen tieferen Sinn dieses Modell eigentlich haben soll, als wir es sahen. Nach mehreren dunklen Flecken an der Wand ragten nun riesige Wucherungen in den Gang hinein. „So sieht also Darmkrebs aus“, murmelte eine Passantin. Qual und ich schluckten. Einige Meter weiter fanden wir endlich den wortwörtlichen Darmausgang. Qual war indes immer noch beeindruckt und bat mich eindringlich: „Bitte gehe bei Gelegenheit mal zu einer Vorsorgeuntersuchung. Denn Krebs zu haben ist wie das, was am Ende der Verdauung herauskommen kann: Einfach Scheiße.“
Stiltest: Melinda Nadj Abonji