Qual und die Liebe

Neulich waren Qual und ich mal wieder in einem Shopping Center unterwegs. Gerade wollten wir mir in einem Klamottenladen ein paar neue Jeans besorgen, als sich folgende Szene vor unseren Augen abspielte:
Ein kleiner Mann schlenderte scheinbar ziellos durch die Gänge des Geschäfts. Vorbei an sämtlichen Angebotsständern hatte er, wenn überhaupt, nur Augen für die anderen Kunden. Er trug Sandalen mit weißen Socken, eine blaue Bermuda-Hose und ein rosa T-Shirt mit der Aufschrift „I love you“, wobei das „love“ durch ein großes rotes Herz symbolisiert wurde.

Das Shirt war ihm mindestens eine Nummer zu klein, so dass der Stoff gerade noch so seinen Bauchnabel verdecken konnte, den Schwimmring darunter aber beim besten Willen nicht zu verstecken vermochte. Dann und wann blieb der Mann stehen und kratzte sich mit einer Hand nachdenklich seine Halbglatze. Mit der anderen schob er regelmäßig seine Hornbrille nach oben, die immer wieder die Nase herunter rutschte. Alles in allem gab er ein recht ulkiges Bild ab.

Plötzlich hatte er wohl gefunden, wonach er die ganze Zeit suchte. Mit einem unglaublichen Tempo trugen ihn seine Sandalen Richtung Umkleide, wo eine Frau und ein Mann eben aus ihren Kabinen kamen. Beherzt griff er die rechte Hand des Mannes, dem er nur knapp etwas über die Hüfte ging, und wollte ihn mit aller Macht zur Frau zerren. Mit seinem ganzen Körpergewicht legte er sich ins Zeug, konnte ihn jedoch nicht einen Zentimeter bewegen. Etwas irritiert schaute der Besitzer der Hand dem Treiben einen Moment zu. Schließlich wurde es ihm zu bunt und er entledigte sich des kleinen Mannes mit einem unwirschen Schubser. Unsanft landete letzterer auf dem Hosenboden. „Verschwinde, du Freak!“, meckerte sein Gegenüber und ging wütend davon.

Wie der kleine Mann so da lag und sich nicht rührte, hatten wir Mitleid mit ihm und beschlossen, nach ihm zu sehen. „Alles in Ordnung?“, fragte ich. Dem kleinen Mann kullerten mehrere Tränen die Pausbacken herunter. Hilfesuchend sah ich Qual an. Der erwiderte meinen Blick nur mit einer ratlosen Geste. „Okay, kann ich Ihnen vielleicht aufhelfen? Wie heißen Sie?“, versuchte ich es erneut. Endlich schaute er auf. „Amor. Ick heiße Amor“, sprach er mit Berliner Dialekt und noch zittriger Stimme. „Amor? So wie der Gott der Liebe?“, hakte ich verwundert nach. „Janz jenau. Dit bin ick.“ Qual schwebte langsam zu mir herüber und meinte dann in ernstem Ton: „Lass ihn liegen. Der Mann ist offensichtlich verrückt.“

Ich ignorierte meinen Begleiter und stellte neugierig weitere Fragen. „Und warum sind Sie hier unten auf der Erde und nicht da oben?“, wollte ich, mit dem Zeigefinger zum Himmel zeigend, wissen. „Naja, dit is so: Ick bin ja nich der ursprüngliche Amor, weeßte? Hab sein Amt ja nur übernommen.“ So langsam war ich mir nicht sicher, ob Qual nicht doch richtig lag. Dennoch setzte ich das Gespräch fort: „Und was macht der echte Amor?“ Der kleine Mann richtete sich auf, kratzte sich abermals die Halbglatze und schob die Hornbrille wieder die Nase hoch. „Der is in Rente, soweit ick weeß. Jibt ja heutzutage nur noch een Gott. Janz früher gab’s ja noch für allet nen Gott, so polytheistisch, weeßte? Mitm Monotheismus is dit man schwierig jeworden. Aber die Arbeit muss ja trotzdem jemacht werden, wa?“ Ungläubig starrte ich den Mann an. „Machen Sie das denn schon Ihr ganzes Leben lang? Diese Amor-Sache?“ Der Möchtegern-Amor lachte. „Ach iwo. Eigentlich heiß ick ja Dieter. Du kannst och du zu mir sagen. Ick war mal Baggerfahrer uffm Bau. Dann wurde ick beleuchtet.“ „Du meinst erleuchtet?“ „Janz jenau, beleuchtet“, sprach er und nickte bedächtig.

Ich bohrte weiter nach: „Und den Mann und die Frau vorhin, die wolltest du zusammenbringen?“ Dieter seufzte. „Dit war der Plan, wa …“ „Warum nimmst du denn nicht deinen Bogen mit den Liebespfeilen?“, schlug ich vor. Dieter schüttelte den Kopf. „Dit jeht nich. Neue Vorschriften. Order von janz oben. Is so ne Image-Geschichte. Mit Pfeilen uff die Herzen ballern is wohl irgendwie nich christlich jenuch. Der Boss sagt, dass ick dit ohne Waffen packen muss. Quasi im Nahkampf, nur ohne kämpfen, weeßte?“ Erneut kratzte er sich am Kopf und schob seine Brille in die richtige Position.

„Vielleicht solltest du die Sache anders angehen. Menschen mögen es in der Regel nicht, von fremden Leuten zu etwas gezwungen zu werden“, riet ich ihm. „Wem sachste dit. Die Sache is nur die, dass och echt jeder fajessen hat, mal sowat wie Nächstenliebe zu zeigen. Da fängt dit ja schon an. Es sind die kleenen Dinge, die dit Leben schön machen, weeßte? Jut, ick muss. Bis Feierabend brauch ick noch drei neue Paare. Danke dir, Großer, bleib sauber“, verabschiedete sich Dieter und watschelte davon. „Weißt du, Qual, ich habe dich echt gern.“ „Wie bitte?“ „Ach nix“, sagte ich und schaute Dieter hinterher.

Stiltest: Kurt Tucholsky

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