Beim Frühstücken debattierten wir gerade hitzig darüber, welcher Sketch von Mr. Bean der beste sei, als es unverhofft an der Tür klingelte. Fragend sah Qual mich an. „Ich erwarte niemanden“, sagte ich schulterzuckend und schlurfte in Badelatschen zur Gegensprechanlage. „Aber um das noch mal klar zu stellen: Es ist trotzdem der, bei dem er in einer Prüfung sitzt und den falschen Fragebogen bearbeitet!“, rief ich, immer noch empört ob Quals scheinbar fehlendem Verständnis für gute Komik, in die Küche.
Mit einem freundlichen Hallo wandte ich mich dann an mein mir unbekanntes Gegenüber vor der Haustür. „Guten Tag, hier ist die Post. Ich habe einen unzureichend frankierten Brief für Daniel Lehmann. Könnten sie bitte den fehlenden Betrag ausgleichen?“, tönte es ebenso freundlich aus der Sprechanlage. Da wir so gut wie nie Post bekamen (von offiziellen Schreiben einmal abgesehen), war ich nun doch etwas verwundert. „Was ist denn los?“, wollte Qual jetzt auch wissen. „Die Post. Muss mal eben runter, gleich wieder da.“ Kurz bevor ich die Wohnungstür hinter mir schließen konnte, flötete er noch: „Dann kannst du ja gleich den Müll mit nach unten nehmen.“
Mit etwas Kleingeld und drei Müllsäcken in der Hand ging ich also nach unten. Dort winkte mir ein sehr junger Postbote schon mit dem anscheinend an mich adressierten Brief zu. „Was bekommen Sie?“, fragte ich ihn. Doch er schaute nur auf meine Badelatschen. „Badelatschen in Hello Kitty-Design?“, japste der Postbote. „Waren ein Geschenk“, seufzte ich, „also, was bekommen Sie?“ Der Postbote rechnete mir vor: „Die Nachgebühr beträgt einundfünfzig Cent. Das Porto für einen Standardbrief beläuft sich seit Januar dieses Jahres auf achtundfünfzig statt fünfundfünfzig Cent.“ Ich sammelte vierundfünfzig Cent zusammen. „Allerdings“, fuhr der Postbote fort, „müsste ich Ihnen eigentlich mehr berechnen, da der Brief schwerer als zwanzig Gramm ist. Aber sehen Sie selbst.“
Ich nahm den Brief entgegen und sah ihn genauer an. Als Absender war John Doe angegeben. Auf der Vorderseite klebten eine Briefmarke im Wert von fünfundfünfzig Cent und drei mit Sekundenkleber befestigte Münzen: zwei Zweicentstücke und ein Eincentstück. Gleichzeitig irritiert und amüsiert sah ich den Postboten an. Der rechnete abermals vor: „Die Zweicentstücken wiegen zusammen knapp sechs Gramm, das Eincentstück etwa zwei Gramm. Ihr Brief wiegt damit einundzwanzig Gramm, was neunzig Cent Porto bedeuten würde. Aber lassen wir das ausnahmsweise mal außer Acht.“ Der Postbote grinste. Wir verabschiedeten uns und ich ging wieder nach oben.
Schnell öffnete ich den Brief. Darin befanden sich zwei DIN-A4-Seiten voller Haikus über das Leben, die Arbeit und die Gesellschaft. Verstohlen schwebte Qual zu mir heran. „Toll, oder?“, erkundigte er sich nach meiner Meinung. „Ich nehme mal an, dass der Brief von dir ist?“, vergewisserte ich mich, ohne auf die Frage zu antworten. „Natürlich. Wer sollte dir sonst einen Brief schreiben? Ich verschicke schon seit Monaten Briefe mit Haikus, kleinen Geschichten oder Bildern an mehr oder weniger zufällig auserwählte Personen. Es war an der Zeit, dass du auch mal einen bekommst“, erklärte er mir. „So so. Und dich bezeichnet man dann als Briefwal?“ „Scherzkeks!“
Ich dachte nach.
„Coole Idee, das mit den Münzen. Wie bist du darauf gekommen?“ Qual lächelte süffisant. „Das hat mehrere Gründe. Zum einen hatte ich einfach keine passenden Marken mehr. Und dann wollte ich natürlich wissen, ob das funktionieren könnte. Falls es dir aufgefallen ist, habe ich sogar zwei Cent zu viel aufgeklebt. Quasi als Trinkgeld. Dennoch: In gewisser Weise ist diese Aktion meine Art des Protests gegen die Postapokalypse.“ „Postapokalypse?“, wunderte ich mich. „Genau, Postapokalypse! Schau mal bei Wikipedia nach, da findest du zur Erklärung des Begriffs auch den Satz: Alte Gesellschaftsordnungen gelten nicht mehr, oft herrscht ein archaisches System des Stärkeren. Wenn damit nicht die Briefportoerhöhung gemeint ist, weiß ich auch nicht. Und nun lass uns Mr. Bean schauen. Es gibt doch auch noch den Sketch, bei dem er in einem Briefkasten gefangen ist. Für mich mit Abstand der beste.“
Stiltest: Ildiko von Kürthy