Qual und ich schlenderten an einem sonnigen Tag gerade die Friedrichstraße vom Bahnhof aus Richtung Reichstagufer entlang, als wir von einem Mann mit schwarzem Klemmbrett angesprochen wurden. „Entschuldigung, hätten Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für ein paar Fragen?“ Qual, der von Umfragen jeglicher Art sofort genervt ist, runzelte die Stirn und schaute mich eindringlich an. „Nein, tut mir leid“, sagte ich deshalb so freundlich wie möglich und ging ohne anzuhalten weiter. „Aber Sie wissen doch noch gar nicht, worum es geht“, gab der Mann zu bedenken und begann uns zu folgen, „wollen sie das nicht erfahren?“ „Nein, nicht wirklich“, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
Der Mann lief vollkommen entrüstet neben uns her. „Und warum nicht?“ Qual seufzte. „Eben weil ich eh keine Zeit habe“, wiederholte ich mich und beschleunigte das Tempo. Mühsam hielt der Mann Schritt. „Vielleicht interessiert Sie das Thema ja, warum hören Sie mir also nicht wenigstens kurz zu?“, ließ der Klemmbretthalter nicht locker. „Wenn ich mich wirklich dafür interessieren sollte, würde ich mich im Endeffekt darüber ärgern, keine Zeit für Sie zu haben. Das hier ist demnach reiner Selbstschutz“, bemühte ich eine in meinen Augen ziemlich nett klingende Ausrede.
Der Klemmbrettmann dachte nach. „Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie für die Beantwortung der Fragen Geld bekommen?“ „Dann hätte ich trotzdem nicht mehr Zeit!“, erwiderte ich, langsam ebenfalls genervt. „Aber wenn Zeit tatsächlich Geld ist, könnten Sie sich von meinem Geld doch neue Zeit kaufen, meinen Sie nicht?“ „Haben Sie denn Geld für mich?“, hakte ich nach. „Natürlich nicht“, grinste der Mann, „aber Sie haben doch nichts zu verlieren, oder?“ Ich zog es daraufhin vor, ihn einfach zu ignorieren, und setzte weiter einen Fuß vor den anderen. „Meinen Sie nicht?“, fragte der Mann erneut und ging weiterhin mit uns die Straße runter. „Sehen Sie das etwa anders?“, formulierte er seine letzte Frage nur kurze Zeit später neu. Zehn Minuten lang versuchte er, so eine Antwort aus mir herauszukitzeln, obwohl ich schon längst in keinster Weise mehr auf ihn reagierte.
Als ich bemerkte, dass wir durch unsere glücklose Flucht vor dem Klemmbrettmann inzwischen fast am Nordbahnhof angelangt waren, hatte ich genug. Abrupt blieb ich stehen. Vor Schreck ließ der Mann sein Klemmbrett fallen, so dass eine Ecke beim Aufprall auf den Asphalt absplitterte. Ich fuhr ihn an: „Wir laufen hier jetzt seit einer gefühlten Stunde durch die Gegend und trotzdem machen Sie keine Anstalten zu verschwinden. In dieser Zeit haben Sie bereits gefühlte einhundert Fragen gestellt. Also egal, worum es in Ihrer Umfrage überhaupt geht, es kann kaum schlimmer werden. Ich beantworte Ihnen jede verdammte Umfrage der Welt!“
Plötzlich zückte jeder der umstehenden Passanten ein schwarzes Klemmbrett hervor und stürmte quasselnd auf uns zu. „Was halten Sie von der neuen Umweltkarte der BVG?“, rief einer. „Wenn am Sonntag Wahlen wären…“, begann ein anderer. „Der Wachtturm verkündet Jehovas Königreich! Ein Exemplar gefällig?“, ächzte ein in der Masse an Klemmbrettmenschen fast erdrückter Zeuge. Skeptisch beobachteten Qual und ich die versammelte Meute. „Finden Sie auch, dass öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zur Verfügung stehen sollten?“, warf eine Klemmbrettfrau in die Runde. „Das ist doch utopisch!“, sagte der BVG-Beauftragte. „Rettet den Mäusebussard! Stoppt alle Züge!“, forderte eine Umweltaktivistin, die mit ihrer Unterschriftenliste wedelte und auf die Knie fiel. „Das geht zu weit!“, waren sich der BVG-Typ und das Mitglied der Piratenpartei dann doch einig. „Warum? Jesus Christus ist nie mit der Bahn oder einem anderen Fahrzeug unterwegs gewesen! Sogar über das Wasser ist er gelaufen!“, gab der Zeuge Jehovas zu Protokoll. „Kann ich euch mal eine Frage stellen?“, wendete ich mich verwirrt an die Menge. „Nein!“, schrien alle zusammen und diskutierten munter weiter. „Komm, lass uns einfach gehen“, schlug Qual vor, „da hinten kommen schon die ersten Rentner. Und glaube mir, das Spektakel willst du nicht erleben.“
Stiltest: Peter Handke