Jüngst gingen wir auf der Suche nach einer neuen Deckenleuchte wieder einmal durch ein großes schwedisches Möbelhaus. Dafür sind wir extra eine Stunde mit der Bahn zum nächstgelegenen Standort gefahren, statt im familienbetriebenen Lampenladen in der vierten Generation nur eine Straße weiter zu schauen. Nachdem wir gleich zu Beginn den obligatorischen Packen kostenloser Bleistifte aus sämtlichen sichtbaren Halterungen in meinem Rucksack verstaut hatten, machten wir uns auf den Weg in die Beleuchtungs-Abteilung.
Qual, der aus den gesammelten Bleistiften in ferner Zukunft eine Blockhütte im Chinker-Stil bauen will, beschwerte sich alsbald über deren Beschaffenheit: „Früher sahen die ganz anders aus. Da waren die noch nicht ganz so lang und hatten dafür aber einen größeren Durchmesser.“ „Beeinflusst das in besonderer Weise deine Baupläne?“, fragte ich ihn, als wir gerade am hauseigenen Restaurant vorbeiliefen und weiter den großen blauen Kreisen mit den weißen Pfeilen darin folgten. Ein großes Schild an der Wand warb für das Spargelbuffet. „Natürlich tut es das“, erwiderte Qual entrüstet, „da brauche ich doch gleich viel mehr davon!“ Ein Pärchen, das in etwa in meinem Alter sein musste, kam uns entgegen und diskutierte rege über die Wahl des richtigen Flurschranks.
Ich setzte unser Gespräch fort: „Warum pflanzt du nicht einfach ein paar Bäume im Hinterhof? In ein paar Jahren hättest du sicherlich genau so viel Holz beisammen, als wenn wir hier jedes Mal alles abräumen würden.“ Qual sah mich fassungslos an. „Eine auf herkömmliche Weise errichtete Blockhütte ist aber keine Kunst mehr, du Kretin. Und was genau spricht dagegen, dass wir diese clever erdachte Marketingmaßnahme zur Kundenbindung in vollem Maße für unsere Zwecke ausnutzen?“ Eingeschnappt erklärte ich ihm: „Ich möchte nur klarstellen, wie unangenehm es mir ist, wenn sämtliche Kunden und Mitarbeiter mit dem Finger auf mich zeigen, nur weil mein bis oben hin mit gratis Schreibutensilien gefüllter Rucksack klappert, als würde die Berliner Staatskapelle Richard Wagners Walkürenritt ausschließlich mit Klanghölzern performen.“
Ehe Qual darauf reagieren konnte, ertönte über die Lautsprecher eine Durchsage: „Der kleine Nils möchte aus dem Småland abgeholt werden. Die Eltern vom kleinen Nils, bitte ins Småland. Danke!“ Ich dachte nach. „Findest du es auch komisch, dass jedes Kind von der Durchsage das Attribut klein zugeschrieben bekommt?“ Qual grübelte. „Schon irgendwie. Immerhin werden dort nur Kinder bis maximal zehn Jahre betreut. Wie groß können die denn schon sein?“ Ich ergänzte: „Oder gibt es noch einen zweiten Nils, der größer ist? Wird der dann automatisch zum kleinen Nils, wenn der ursprüngliche Nils gegangen ist? Aber wie erfahren das überhaupt die Eltern, die ihr Kind zuerst abgegeben haben?“
Inzwischen hatten wir den Bereich mit den Lampen erreicht, griffen uns die nächstbeste und gingen Richtung Kasse. „Man sollte genauer differenzierende Adjektive verwenden. À la Die dicke Anna und der doofe Heinz haben genug mit Plastikbällen gespielt. An die Eltern: Ran jetzt hier!, oder so“, urteilte Qual. Ich bezahlte unsere Lampe CALYPSO und gemeinsam begaben wir uns in die After-Shopping-Schlemmer-Ecke, wie Qual sie nannte. „In gewisser Weise ist IKEA so etwas wie die blau-gelbe Nachbildung des Lebens“, sagte ich plötzlich philosophisch, „ehe man sich versieht, gehen die Schiebetüren auf und schon durchläuft man an Fertigküchen und Couchlandschaften vorbei die einzelnen Abschnitte des Daseins. Man hat einen groben Plan wo es hingeht, aber wie du ans Ziel kommst, ist dennoch relativ variabel. Trotzdem: An der Kasse müssen alle vorbei.“
„Du vergleichst gerade die Kasse mit dem Tod?“, hakte Qual ohnehin schon irritiert nach. Ich nickte. „Und was ist dann das Småland?“ „Na die Kindheit. Eine Zeit lang gefällt es dir, du hast Spaß. Aber irgendwann reicht dir das nicht mehr und du lässt dich abholen. Was du nicht weißt: Wenn du einmal das Småland verlassen hast, kommst du nicht mehr rein. Und das bereust du spätestens dann, wenn du dir stattdessen Schlafzimmer ansehen musst.“ Qual ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. „Und weil meine Theorie stimmt, fühlt man sich auch jedes Mal älter, wenn man in einem IKEA war. Man hat ja quasi damit auch sein Leben im Zeitraffer durchlaufen. Was man außerdem lernt, ist die Tatsache, dass man nicht viel braucht, um glücklich zu sein“, behauptete ich.
„Nur einen Inbusschlüssel“, pflichtete Qual mir bei, „aber wenn die Kassiererin der Sensenmann ist, wo befinden wir uns dann jetzt?“ Ungläubig sah ich ihn an. „Hot-Dogs für etwas mehr als einen Euro, die man nach eigenem Gutdünken mit Zwiebeln und Gewürzgurken beladen kann? Das muss das Paradies sein!“
Stiltest: Melinda Nadj Abonji