Qual und die Stockenten

Entspannt spazierten Qual und ich im letzten Sommer durch den Park unweit unserer Wohnung. In letzterer war es uns aufgrund der angestauten Hitze der letzten Tage schlicht zu warm geworden, selbst des nachts permanent geöffnete Fenster konnten nichts dagegen bewirken. Denn seit einer Weile lachte die Sonne nicht nur, vielmehr kugelte sie sich anscheinend schenkelklopfend auf dem Boden. „Du hast beim All-you-can-eat-Buffet neulich im Sushi-Restaurant eindeutig zu gut aufgegessen“, witzelte Qual, „der Herbst fällt dann dieses Jahr wohl einfach aus.“
Ich schüttelte den Kopf. „Wie soll man denn beim All-you-can-eat aufessen können? Ich habe doch nicht das ganze Buffet vernichtet“, gab ich zu bedenken. Er sah mich überrascht an. „Wenn jemand dafür sorgt, dass der Restaurantbesitzer den Köchen, die eigentlich frei haben, mit gebrochener Stimme kurzfristig eine Sonderschicht aufdrückt, reicht das meiner Meinung nach ebenfalls aus.“ Ich pfiff verächtlich und machte eine abwinkende Handbewegung.
Wir setzten uns auf eine freie Bank mit Blick auf eine von Bäumen umrandete Rasenfläche in Wassernähe und observierten ein Rentnerpärchen, das wiederum feixend beobachtete, wie eine junge Mutter mehr oder minder verzweifelt ihrem kleinen Kind zu folgen versuchte, das mit einer Tüte voller Brötchen nach und nach immer mehr Enten gefüttert hatte und nun kreischend vor einem ganzen Schwarm hungriger Exemplare davonrannte. Die Szene erinnerte uns sehr an Alfred Hitchcocks Die Vögel.
„Im Übrigen heißt es nicht mehr All-you-can-eat, sondern Essen nach Ermessen“, griff ich unser Gespräch wieder auf, während das kleine Kind inzwischen gestolpert war und panisch auf allen vieren ums nackte Überleben kroch. Zumindest wenn man die hysterischen Schreie der Mutter, die mittlerweile vor lauter Furcht beckenabwärts zur Salzsäure erstarrt war und daher etwas abseits vom Geschehen nur noch durch akustische Signale Einfluss auf den weiteren Verlauf dieses Dramas nehmen konnte, als Gradmesser für die Wahrscheinlichkeit eines bevorstehenden Todesfalls herangezogen hätte.
„Wer sagt das denn?“, fragte Qual erstaunt. „Die Aktion lebendiges Deutsch der Stiftung Deutsche Sprache“, klärte ich ihn auf, „die sammeln Vorschläge, um unnötigerweise in den Sprachgebrauch übergegangene Fremdwörter durch deutsche Begriffe zu ersetzen.“ „Aha. Und was verspricht man sich davon?“ Nun sah ich ihn überrascht an. „Bist du kein Verfechter der Reinhaltung des Deutschen? Ich bin nur davon ausgegangen, weil du ja auch sonst eher traditionell veranlagt bist.“ Qual verschränkte die Flossen und rollte mit den Augen. „Wenn du wie ich mehr als zweihundert Jahre Geschichte miterlebt hättest, würdest du genauso kritisch Neuem gegenüber reagieren. Aber was die Sprache angeht, bin ich Lingualliberalist.“
Das kleine Kind ergab sich derweil in das Schicksal seiner Verfolger und kauerte nur noch nahezu regungslos auf dem Rasen. Rund fünfzig Enten hatten einfach nicht locker gelassen und begruben den hilflosen Körper auf der Suche nach weiteren Brötchen, die allerdings schon längst beim Davonlaufen fallen gelassen wurden, unter sich. Trotzdem hatten sich die Stockenten an den Dreikäsehoch geheftet. Mit leerem Blick reagierte er, wenn wieder ein Entenfuß in sein Gesicht geklatscht war. Das Rentnerpärchen hatte sich Popcorn besorgt und wohnte dem Spektakel nach wie vor amüsiert bei.
„Eine Sprache darf man nicht in Isolationshaft stecken, genauso wenig wie man über Anglizismen eine Quarantäne verhängen sollte. Manche tun gerade so, als wären Fremdwörter ein bösartiger Keim, der das Deutsche zerstört. Dabei beruht die ganze Evolution auf Mutation und Modifikation. Warum akzeptiert man das also nicht in diesem Fall?“ stellte Qual eine rhetorische Frage.
„Du hast ja recht. Übertreiben muss man es trotzdem nicht. So, Schluss jetzt mit dem Ententanz!“, forderte ich und holte meine Entenlockpfeife, die ich für derartige Notfälle immer dabei habe, aus meiner Hosentasche und blies kräftig hinein. Die Enten ließen das Kind sofort los, hielten kurz inne, schauten uns verdutzt an und setzten sich dann in einem Affenzahn in unsere Richtung in Bewegung.
„Meinst du, dass das eine gute Idee war?“, stöhnte Qual, während ich die Beine in die Hand nahm. „Lass das mal meine Sorge sein“, keuchte ich beim Rennen. Ich steuerte auf die halbleere Brötchentüte zu, bekam sie gerade so zu fassen, ohne dabei im Rasen hängen zu bleiben und mir einen Schlüsselbeinbruch einzuhandeln, und warf sie in hohem Bogen zum Rentnerpärchen. Mit der Situation überfordert, verfolgten sie nur die Flugbahn meines ungewöhnlichen Wurfgeschosses, das genau auf deren Popcorntüte landete. Vom herumfliegenden Popcorn abgelenkt, merkten die beiden nicht, wie sich die Stockenten in Form einer bedrohlichen Wolke aus Schnäbeln und Federn näherten. Als sie es taten, war es zu spät. Mit ihren erstickenden Schreien im Hintergrund schlenderten Qual und ich nach Hause.
„Es ist doch so: Die Wörter einer Sprache sind solange gut, solange sie von allen verstanden werden“, meinte Qual. Zustimmend blies ich in meine Entenlockpfeife.

Stiltest: Alexa Hennig von Lange

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