Qual und das Festival

Gemeinsam mit Qual und Freunden aus der Schulzeit verbrachte ich ein verlängertes Wochenende bei einem größeren deutschen Musikfestival. Während wir am Donnerstag bei brütender Hitze, die unser Auto in eine mobile Sauna ohne Aufguss verwandelte, losgefahren waren, sorgte die Kaltfront über unserem Zielort alsbald für monsunartige Klimaverhältnisse. Am Campingplatz angekommen, hatten wir daher einige Mühe unser Lager aufzubauen. Schließlich gelang es uns ein größeres Zelt mit gefühlten hundert Heringen und geschickt verteiltem Gepäck im Inneren einigermaßen zu fixieren. Wir bildeten einen kleinen Stuhlkreis, stellten ein Teelicht, das durch den immer noch durch kleine Öffnungen eintretenden Wind ganz schön zu kämpfen hatte, in die Mitte und lauschten den Geräuschen der Umgebung. „Warum tut man sich das eigentlich an?“, fragte einer aus unserer Runde. Alle schwiegen. Die meisten von uns hatten etwas Erde im Gesicht, die Kleidung war völlig durchnässt und an unseren Schuhen haftete genug Modder, um den Weltrekord für die größte Kleckerburg zu brechen.
Draußen ertönten derweil die Klageschreie derjenigen, die erst nach uns angekommen waren und nun ihre Habe bei nicht nachlassendem Regen über knöcheltiefen Matsch und Schlamm tragen mussten. Untermalt wurde diese akustische Szenerie von einer leistungsstarken Anlage einige Meter weiter, die anscheinend trotz der vor allem für Technik widrigen Verhältnisse in Gang gebracht worden ist und die nächsten Tage die Diskografie von Rammstein rauf und runter spielen sollte. Müde von den unternommenen Anstrengungen gingen wir alsbald schlafen. Erst zu diesem Zeitpunkt realisierte ich, dass meine in der Sommerhitze Berlins getroffene Entscheidung contra Schlafsack und pro Sommerdecke vielleicht doch nicht die beste war.

Am nächsten Morgen bot sich uns ein Bild des Grauens. Überall sah man eingebrochene Pavillons, geflutete Zelte und unterspülten Boden. Irgendwo stieg Rauch auf. Jemand hatte eine Leuchtrakete zu flach abgefeuert und damit ein Zelt in Brand gesteckt. Dennoch hörte man allerorten jauchzende Menschenansammlungen. Es roch mal mehr, mal weniger stark nach Alkohol und Grillfleisch. Leicht bekleidete junge Frauen und Männer spielten Fange, duellierten sich im Flunkyball oder vegetierten schlicht besoffen vor sich hin. Das Ganze bei schönstem Sonnenschein zu sehen, gab der Angelegenheit eine unwirkliche Note. „Gebt denen ein goldenes Kalb und sie werden frohlockend darum tanzen“, meinte Qual kopfschüttelnd. „Vielleicht tun wir uns das hier genau deswegen an: Einfach mal alles vergessen und Spaß haben“, sagte ich. Ein Typ in einem Morphsuit führte einen anderen an einer Hundeleine an uns vorbei und nickte uns zu. „Gegen Spaß ist ja auch absolut nichts einzuwenden. Ich finde es nur bemerkenswert, wie sehr so ein Biotop namens Festival zur Veranschaulichung der Ethik und Moral des Menschen in seinen Grundzügen geeignet ist.“

In diesem Moment torkelte ein Kerl im Tiger-Kostüm auf uns zu, stolperte dabei mehrfach über diverse Zeltschnüre, rappelte sich stets wieder auf und kam schließlich vor uns zum Stehen. Mit einem Blick so Silber wie ein altes Markstück grölte er: „Scheiß drauf, Festival ist nur ein Mal im Jahr!“ Dann zog er seine Tiger-Hose herunter und wollte in unser Zelt pinkeln, konnte von uns aber gerade so davon abgehalten werden. Angewidert forderten wir ihn auf zu verschwinden. Pikiert zog er davon, die Hose immer noch auf Höhe der Kniekehlen. „Bedarf es noch eines weiteren Beweises?“, fragte mich Qual und ergänzte: „Sobald der Mensch ein paar Freiheiten mehr hat, nutzt er sie gnadenlos aus. Ohne gesellschaftliche Konventionen oder ordnende Instanzen herrscht das Gesetz des Stärkeren und die Schwachen leiden darunter.“ Plötzlich ertönte ein spitzer Schrei. Kurz darauf rannte der Tiger wieder an uns vorbei, verfolgt von einer zierlichen Person mit einer Bratpfanne in der Hand.
Drei Tage später waren wir wieder in der Hauptstadt. Ich ging mit Qual morgens die Warschauer Straße entlang, als ich einen Anruf erhielt. Ein Kumpel wollte wissen, ob ich vom Festival zurück bin. Vor uns stellte sich jemand, der offensichtlich lange feiern war, an eine Bushaltestelle und urinierte auf die Sitze. Mit dem Telefon am Ohr antwortete ich: „ Ach weißt du, Berlin ist doch auch irgendwie ständig Festival.“

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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