Qual und die Glückscents

„Musstest du da drin so eine Szene machen?“, fragte mich Qual vorwurfsvoll. „Es ging mir nur ums Prinzip! War ja klar, dass du das nicht verstehst“, kritisierte ich ihn. „Aber die arme Verkäuferin hat am Ende beinahe geweint. War das wirklich notwendig?“ Ich reagierte genervt: „Mann, Qual! Es tut mir leid, okay?“ Er wirkte noch nicht ganz zufrieden. „Hättest du das mal ihr gesagt und nicht erst jetzt mir.“ Ich seufzte. „Willst du, dass ich zurückgehe und mich entschuldige?“

Qual überlegte. „Nein, dafür ist es jetzt zu spät. Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Ich versuchte mich zu rechtfertigen: „Ich bin nur davon ausgegangen, dass eine Fachkraft im Einzelhandel nach einer erfolgten Transaktion in der Lage ist, die korrekte Menge an Wechselgeld an den Käufer auszuhändigen.“ Qual sah mich ungläubig an. „Das ist trotzdem kein Grund dieser netten alten Dame, die wahrscheinlich seit über vierzig Jahren montags bis sonntags in diesem Dorfkonsum arbeitet und dabei noch nie auf einen ungehobelteren Kunden als dich gestoßen ist, wegen eines kleinen Rechenfehlers einen solchen Affentanz aufzuführen!“

Ich sah mich um. Wir befanden uns auf einem kleinen menschenleeren Parkplatz eines Tante-Emma-Ladens in einer winzigen Siedlung irgendwo in Brandenburg, unser Wagen war der einzige hier. „Kleiner Rechenfehler? Wenn zwei Brötchen nun mal dreißig Cent kosten und ich aber vierzig Cent gebe, werde ich wohl noch auf meine zehn Cent pochen dürfen! Konnte ja keiner ahnen, dass es die Gute mit dem Gehör nicht mehr so hat. So musste ich zwangsläufig derart gestenreich vor ihr herumhüpfen, um ihr mein Anliegen zu verdeutlichen. Dass ich dabei ausgesehen haben muss wie ein Indianer auf Koks, der einen Regentanz aufführt, war wirklich nicht beabsichtigt.“

Erneut erntete ich einen fassungslosen Blick. „Zehn Cent“, murmelte er nur, „zehn Cent.“ „Ich hätte es auch für weniger getan!“, blaffte ich ihn an. „Warum?“, wollte Qual entsetzt wissen. „Du kennst doch das Sprichwort: Wer den Pfennig nicht ehrt, ist den Taler nicht Wert.“ Er ließ sich konsterniert eine Flosse über das Gesicht gleiten. „Du ehrst den Pfennig aber nicht gerade, wenn du dafür eine Lady vom Lande zur Schnecke machst. Ich dachte immer, Geld verdirbt den Charakter. Du allerdings hast nicht einmal welches und bist trotzdem ein Arsch“, rügte mich Qual. „Mann, du hast natürlich wie immer recht. Was interessieren mich die paar Cents?“, zischte ich in zynischem Ton.

Wütend warf ich daraufhin das Zehncentstück, das ich letztlich als Wechselgeld bekommen hatte und das sich bis zu diesem Zeitpunkt in meiner Hosentasche befunden hat, auf den Boden und stampfte wie ein kleines Rumpelstilzchen darauf herum. Dabei wirbelte ich eine Menge Staub auf, dachte aber noch lange nicht daran aufzuhören.

Mit verschränkten Flossen schaute mir Qual gelassen dabei zu, wie ich meinen negativen Emotionen freien Lauf ließ. Nach schweißtreibenden fünf Minuten hatte ich mich einigermaßen beruhigt. Als sich auch die Staubwolke wieder gelegt hatte, glänzte im Sonnenschein plötzlich neben dem Geldstück noch etwas anderes auf dem Boden. Neugierig bückte ich mich und wischte ein wenig mehr Sand zur Seite, bis ich erkannte, worum es sich dabei handelte.

„Das ist eine Kette“, sagte ich erstaunt zu Qual. „Wem die wohl gehört?“, grübelte er. „Ob die Frau aus dem Tante-Emma-Laden Bescheid weiß?“ Wir gingen also zurück in den Laden und erkundigten uns nach dem Besitzer der Kette. Zufälligerweise handelte es sich dabei um genau jenes Schmuckstück, das die Verkäuferin bereits den ganzen Tag über gesucht hatte und dessen Verlust sie schon ziemlich verzweifelt gemacht hatte. Wie sie es überglücklich wieder in den Händen hielt, freuten sich Qual und ich, wieder einigermaßen versöhnt mit ihr. Ich entschuldigte mich in aller Form für meine harsche Art und bekam dafür zum Dank Hackepeter auf unsere gekauften Brötchen geschmiert.

Gleich im Auto begann ich sie genüsslich zu verzehren. „Weißt du was“, unterbrach ich meinen Gaumenschmaus, „ich habe heute viel gelernt. Geld allein macht nicht glücklich, man braucht auch mit Liebe gemachte Mettbrötchen dazu.“

Stiltest: Daniel Kehlmann

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