Qual und der Aktivismus

Um bei schönem Wetter nicht die aufgeheizte S-Bahn nehmen zu müssen, fuhr ich neulich mit dem Fahrrad nach Hause. Dort fast angekommen, bemerkte ich in der Hauptstraße unweit unserer Wohnung einen neuen Fußgängerüberweg. Allerdings war dieser nicht wie üblich weiß, sondern gelb. Nach kurzem Umschauen erblickte ich einige Meter entfernt eine Baustelle, sodass ich die Ursache für die Farbe des Zebrastreifens gefunden zu haben glaubte. Da gerade weder Autos kamen, noch Fußgänger in Sicht waren, fuhr ich nichts Böses ahnend direkt rüber.

Doch noch bevor ich auf den plötzlich auftauchenden intensiven Geruch in meiner Nase angemessen reagieren konnte, flog mir beim Überqueren der ersten Markierungen in Ermangelung hilfreicher Schutzbleche und getrieben durch die Zentrifugalkraft meiner in Bewegung versetzten aufgepumpten Reifen jeweils ein dicker Schwall gelber Masse ins Gesicht und an den Rücken. Ob dieser Ereignisse total perplex, verlor ich nach meiner Fassung schon kurz darauf das Gleichgewicht. Unsanft landete ich auf dem von der Sonne erhitzten Asphalt. Eine Tatsache, die nicht nur an meinem Ego, sondern zudem an meiner oberen Hautschicht äußerst unangenehm kratzte. Ersteres übrigens, weil ich mir inzwischen schon zu oft bewiesen habe, dass man das Fahrradfahren nun mal doch verlernen kann. Ich besann mich auf mein Dasein als Freizeit-Indianer und ignorierte den durch meine aufgeschürften Knie und Handflächen aufkommenden Schmerz. Immer noch in fast perfekter horizontaler Position, wischte ich mir mit meinem Handrücken etwas von der gelben Masse von meiner Wange und leckte daran. Überrascht richtete ich mich auf. Denn es schmeckte nach Senf.

Blut- und demnach sogar senfverschmiert schleppte ich mich schließlich gefühlte Stunden später in unser Wohnzimmer. Qual hatte schon längst das Abendessen vor- und zubereitet. Aus der Küche rief er mir nörgelnd zu: „Hättest ruhig Bescheid geben können, dass du später kommst.“ Beschwichtigend entgegnete ich: „Es tut mir leid! Ich hatte einen Unfall.“ „Ausreden helfen dir jetzt auch nicht weiter“, sagte Qual und schwebte langsam in meine Richtung, „deine Unzuverlässigkeit bin ich langsam echt…WIE SIEHST DU DENN AUS?“ Ermattet lächelte ich ihn an. „Irgendein Idiot hat einen Zebrastreifen aus Senf auf die Hauptstraße gezaubert. Hab was davon ins Gesicht bekommen, mich erschrocken und bin hingefallen. Leute gibt’s…“, erzählte ich kopfschüttelnd. „Hmm…genau, für mich auch total unverständlich“, pflichtete mir Qual mit einem Mal unerwartet mitfühlend bei.

Misstrauisch sah ich ihn an. „Was macht das Fahrrad?“, hakte er nach, um die für ihn unangenehme Stille zu vermeiden. „Musste ich erschießen. Rahmenbruch, Totalschaden.“ Betreten schaute er auf den Boden. „Okay, rück raus mit der Sprache. Was hast du damit zu tun?“, forderte ich ihn auf. Qual atmete tief ein. „Natürlich war ich das. Aber ich tat es aus noblen Gründen!“ Ich zwang mich ruhig zu bleiben. „Und die wären?“ „Auf der Hauptstraße fehlt doch ganz offensichtlich ein Fußgängerüberweg! Und weil sämtliche Behörden und Ämter bis heute lieber meine Nachrichten ignorieren, als ihrer Untätigkeit zu entfliehen, entschloss ich mich zum persönlichen Aktivismus.“ Ich nickte. „Aber warum ausgerechnet Senf?“

Qual erklärte mir gestenreich: „Die für mein Projekt benötigten finanziellen Mittel wichen geringfügig von meinen vorhandenen ab, daher suchte ich nach kostengünstigeren Alternativen. Et voilà: Bautz’ner Senf im Eimer à zehn Liter ist billiger als dieselbe Menge an Farbe. Mayonnaise hingegen wäre sogar noch teurer gewesen, deshalb musste ich den Kompromiss in Sachen gelb eingehen. Macht aber wahrscheinlich nichts, gelbe Streifen gelten hierzulande ja bekanntlich als gesonderte Fahrbahnmarkierungen. Ist in diesem besonderen Fall wohl durchaus angebracht. Auf eine Sache müsste man allerdings künftig bei der Verkehrskunde achten: Die Bezeichnung Zebrastreifen ist eher unpassend, besser ist doch eindeutig der Tigerstreifen.“

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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