Qual und das Meer

Da Qual bereits über einen längeren Zeitraum eine Art schöpferische Blockade plagte, entschlossen wir uns kurzfristig für einen Erholungstrip ans Meer zu fahren. Immerhin reichte unser Geld für ein nobles Hotel an der Ostsee. Nachdem wir angekommen waren, gingen wir umgehend am Strand spazieren. „Meerluft wird dir gut tun“, prophezeite ich ihm. „Mehr Luft ist tendenziell immer besser als weniger Luft.“ Ich nickte zufrieden: „Na also, du machst auf Anhieb schon wieder schlechte Scherze.“ „Weißt du, was ein schlechter Scherz ist? Dass die Nordsee nicht Westsee heißt. Und noch komischer ist es, dass Ebbe und Flut in eben jenem falsch betitelten Meer vorkommen, nicht aber in der Ostsee. Dabei wäre das historisch passender: „Meer? Haben wir heute nicht. Da müssen sie in 5 Jahren wiederkommen. Aber schöne Röcke kann ich ihnen zeigen.“ Wobei Ostsee und Westsee klingt schon arg stark nach Teilung. Ist vielleicht doch ganz gut so, wie es ist.“

Plötzlich machte ich eine Entdeckung: „Da! Sieh nur! Hier ist erst vor kurzem eine Herde Nordic Walker vorbeigekommen. Die Löcher ihrer Stöcke sind noch ganz frisch, nahezu perfekt ausgehöhlt. Der Alpha-Walker lief stets ein Stück vorneweg, danach folgte seine Gruppe. An dieser Stelle sind sie panisch auseinander gelaufen, die entgegenkommenden Abdrücke im Sand könnten von einem hundeartigen Tier sein.“ „Bestimmt ein Seewolf“, feixte Qual. „Und hier haben sie Rast gemacht“, beendete ich meine Spurenanalyse auf eine leere Packung Power-Müsliriegel zeigend. „Und du warst also mal Trapper im Wilden Westen?“, fragte mich Qual grinsend. „Zumindest habe ich alle Bücher von Karl May gelesen, Pflichtlektüre für alle Großstadtcowboys.“

Qual und der Bundespräsident

“Hey! Hast du schon gehört, wen wir neulich fast gesehen hätten?”, erkundigte ich mich bei Qual. “Den ehemaligen Bundespräsidenten?” Überrascht schaute ich ihn an: “Woher weißt du das schon?” “Lief schon längst bei QualFM, eine schnelle Recherche gehört zu meinen journalistischen Qual-itäten. Außerdem kam mir das gleich komisch vor, dass jemand mit einer Davy Jones-Maske im Supermarkt einkaufen geht.” Ich nickte anerkennend. “Was die Maske wohl zu bedeuten hat?” “In erster Linie wollte er sich garantiert unerkannt unter das Volk mischen, offiziell ist er eh grad im Kloster. Blöd nur, wenn kein anderer eine Maske trägt, fällt doch irgendwo auf. Ansonsten ist das eine sehr schöne Metapher. Davy Jones als Hüter der ertrunkenen Seeleute. Mit seinem Amt hat er ja quasi auch Schiffbruch erlitten.”

“Naja, es ändert sich mit dem Neuen ohnehin nicht viel. Nur die hohe Fluktuation ist bedenklich. Irgendwann sind wir ein Volk von ehemaligen Bundespräsidenten. Das gehört dann zu einem Standardlebenslauf: ein Jahr in Australien und eine Tätigkeit als Bundespräsident mit verkürzter Amtszeit.” “Der Bundespräsident ist die Statistik unter den deutschen Politikern – ganz nett anzuschauen, zuweilen auch repräsentativ, aber dann doch ohne großen praktischen Nutzen”, kommentierte Qual zustimmend. “Wenigstens freuen sich die Mütter, wenn ihnen nach dem soundsovielten Kind jemand ein Verdienstkreuz umhängt und die Hand schüttelt”, sagte ich. Qual war anzusehen, wie er in seinem Kopf ein Gesetzbuch wälzte. “Das Mutterkreuz gibt es aber so heute nicht mehr. Im Ordensgesetz von 1957 wurde dieses als nationalsozialistisches und damit unzulässiges Überbleibsel eingestuft. Aber zum Glück hast du mich. In weiser Voraussicht habe ich bereits 1914 einen Wanderverein, den “Bock auf Stock e.V.”, gegründet. In zwei Jahren feiern wir unser 100-jähriges, dafür gibt es die Eichendorff-Plakette vom Bundespräsidenten. Fang jetzt an zu wandern, dank mir später.”

Qual und das Denkmal

„Wie würdest du Kultur definieren?“, fragte mich Qual während des Frühstücks.

„Wie kommst du jetzt darauf?“, fragte ich mit vollem Mund zurück.

„Das erzähl ich dir gleich, aber erst du. Also?“

„Hm, wahrscheinlich eine Mischung aus allem Schöngeistigen, ge­paart mit den sozialen Gepflo­genheiten oder so. Und dann gibt es noch Joghurtkulturen, die sehen nach zwei Wochen auch spektakulär aus“, antwortete ich mit nach wie vor gefülltem Mund.

Qual schien mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden zu sein: „Du würdest also zugeben, dass eine Begriffsabgrenzung schwierig ist?“ Ich nickte und kaute weiter. Qual fuhr fort: „Wie kann man dann festgelegen, was als kulturelles Erbe für die Nachwelt von Bedeutung ist und was nicht?“

„Erkläre dich bitte.“

„Gern. Regelmäßig werden weltweit Dinge als schützenswertes Gut eingestuft, ohne an die Konsequenzen zu denken. Vor allem die EU ist da ziemlich hinterher. Der Europarat hat 1991 sogar die European Heritage Days ins Leben gerufen. Noch mehr Gedenktage! – aber das Thema hatten wir ja schon zur Genüge behandelt. Jedenfalls stehen immer mehr Denkmäler unter Schutz oder werden gar neu erbaut. Aber denk mal nach, was ein Denkmal so nach sich zieht. In Winnenden steht ein Denkmal für den Mops vom Herzog Karl Alexander von Württemberg. Und warum?“ „Ja, warum?“, fragte ich. „Weil er in einer Schlacht alleine den Weg nach Hause gefunden hat! Na Wahnsinn! Ich würde sagen: Feiger Deserteur! Und so eine Töle bekommt eine eigene Skulptur!“

Ich wischte die Brotkrümel vom roten Küchentisch und schaute ihn an. „Wenn ich dich richtig ver­­stehe, machst du dir also Sorgen, dass durch eine inflationär durchgeführte Einstufung als Denk­mal der Nachwelt gewisse Objekte erhalten bleiben, die mitunter nicht ganz deinem Verständnis von Kultur entsprechen.“

„Genau!“ Qual fühlte sich bestätigt. „Dann gibt es irgendwann nur noch Möpse. Und die Kultur geht vor die Hunde.“