Qual und die Räubertochter

Obwohl ich mich immer dagegen gesträubt hatte, versuchte ich mich in den letzten Semesterferien schließlich doch einmal als Kindersitter. Sicherheitshalber hatte ich mich mit den Eltern bei unserem ersten telefonischen Kontakt auf ein zunächst einmaliges Engagement geeinigt, um – den schlimmsten Fall vor Augen, einen Abend voller psychologischer Folter und physischer Schmerzen – den Rest meines Lebens, frei von jeder weiteren Verpflichtung, für meine Rekreation nutzen zu können. Das sagte ich ihnen so natürlich nicht.

Immerhin begleitete mich Qual, so dass ich zumindest nicht auf mich allein gestellt war. Mit dem Bus machten wir uns auf den Weg zu der etwas abseits gelegenen Adresse.

Pünktlich um 18 Uhr standen wir vor einem äußerst schicken und modern gehaltenen Einfamilienhaus. Das Grundstück war riesig, selbst der Pool hatte mehr Quadratmeter als meine gesamte Wohnung. Der Rasen war so perfekt geschnitten, dass jeder Engländer seine Teetasse erhoben hätte, um dem verantwortlichen Gärtner anerkennend zuzuprosten. Die vier Tore der Großgarage standen weit geöffnet und ermöglichten uns einen Blick auf den imposanten Fuhrpark der Familie, bestehend aus Fabrikaten der Marken BMW und Mercedes, selbstredend nicht gerade die günstigsten Modelle der genannten Hersteller. „Scheinen ja ganz gut betucht zu sein, was? Da sollten wir glatt nochmal über deinen Stundenlohn verhandeln”, flüsterte Qual mir zu.

Ich nickte, atmete durch und drückte ehrfürchtig auf den vergoldeten Klingelknopf. Diiiiing, machte es melodiös, und ich war auf ein ebenso melodiöses Dooooong gefasst, als ich erschrocken einen Satz zur Seite machen musste. Denn in diesem Moment waren die Eltern aus der Tür gesprungen, fast hätten sie mich überrannt. Kopfschüttelnd schaute ich ihnen nach, wie sie Richtung Garage hasteten. Sich im Rennen immer wieder umwendend, rief die Frau mir in abgehackten Satzbrocken zu, sie hätten sich den Termin für das Essen mit der Chefetage leider falsch eingetragen und wären deshalb spät dran, während der Mann hinzusetzte, alle wichtigen Infos für mich wären auf einem Blatt in der Küche zu finden. Und schon waren sie mit einem ihrer BMW davongebraust.

Dooooong, ertönte es endlich. Mein lieber Mann, dachte ich, das fängt ja gut an.

Eine kleine Gestalt erschien im Türrahmen. „Du musst mein Aufpasser sein!”, hörte ich ein zartes hohes Stimmchen. Vor uns stand ein etwa zwei-, dreikäsehohes rothaariges Mädchen. „Dann bist du also Ronja?“, fragte ich freundlich. Sie nickte. „Könntest du mir vielleicht gleich zeigen wo die Küche ist?” Ohne zu zögern führte sie uns durchs Haus, das von innen noch größer wirkte als von außen, bis zum gewünschten Ziel, doch auf dem Tisch lag kein Zettel. Verblüfft starrte ich auf die leere Tischplatte, dann bückte ich mich und warf einen Blick auf den Fußboden, ich checkte die Arbeitsplatte, das Fensterbrett, den Kühlschrank (letzteren sogar von innen). Bis mein Blick schließlich auf Ronjas Gesicht fiel. Sie grinste spitzbübisch vor sich hin.

„Ich weiß genau, dass du den Zettel hast, Ronja. Gib ihn mir!”, forderte ich sie streng auf. Doch sie lachte nur, machte kehrt und wetzte die Treppe hinauf.

„Sie will in ihr Kinderzimmer, halte sie auf!”, rief Qual aufgeregt.

Den Vorteil meiner längeren Beine nutzend, setzte ich ihr augenblicklich nach und erreichte zeitgleich mit ihr die obere Etage, wenn auch völlig außer Atem. Dass der Boden voller Spielzeug lag, hatte ich allerdings viel zu spät registriert. Ich trat mit Wucht auf einen kleinen harten Gegenstand, verlor das Gleichgewicht und wäre, auf einem Bein hüpfend, beinahe die Treppe rückwärts wieder herunter gefallen. Ich hockte mich auf den Treppenabsatz und rieb mir meine rechte Fußsohle. In diesem Moment fiel mein Blick auf den Zettel. Ronja musste ihn bei ihrer Flucht vor mir verloren haben.

Vorwurfsvoll stellte ich sie zur Rede: „Schau mal, was ich hier gefunden habe. Wer bist du? Ronja Räubertochter?”

Doch Ronja reagierte nicht, stattdessen rannen viele kleine Tränen ihr pausbäckiges Gesicht herunter. Qual war schockiert: „Was hast du getan?” Verstört zuckte ich die Achseln. Aber dann sahen wir es: Einem Spielzeuglöwen fehlte der Kopf. „Die Figur muss unter meinem Fußtritt kaputt gegangen sein. Und deshalb weint Ronja jetzt.“

„Aber das ist doch kein Beinbruch”, sprach Qual zu mir, „mit Sekundenkleber bekommen wir das wieder hin.”

Wir suchten ziemlich lange nach dem Löwenkopf, zwischen all dem Kram auf dem Fußboden eine echte Herausforderung. Dann fügte ich Kopf und Körper wieder aneinander und machte Ronja damit glücklich.

„Und was jetzt?“, fragte ich. „Vielleicht schaut ihr zur Feier des Tages einen schönen Film“, schlug Qual vor, „ich weiß sogar, welchen. Der König der Löwen.“

Ich verkaufte Quals Idee als meine eigene und erhielt von Ronja breite Zustimmung. Sie umklammerte den reparierten Löwen fest in ihrer Hand und kuschelte sich an meine Seite. „Darf ich ein Eis haben?“, fragte sie mich bereits nach den ersten Filmminuten. „Wieso denn ein Eis, wir sehen doch jetzt einen Film an“, wehrte ich ab und kam mir pädagogisch äußerst korrekt vor. „Bitte ein Eis. Ein Schokoladeneis, bitte. Weil ich so tapfer war. Und zur Wiedergutmachung, weil du meinen Löwen kaputt gemacht hast.“ Wie kommt sie darauf, dass sie tapfer gewesen ist, ging es mir durch den Kopf, immerhin hat nicht ihr Fuß wehgetan, sondern meiner, und der Löwe ist doch längst wieder … „Bitte, bitte“, bettelte sie weiter, so dass ich schließlich aufgab – Pädagogik hin oder her – und ihr eine Schüssel Schokoladeneis brachte. Qual rollte ob Ronjas Verhandlungsgeschick nur amüsiert mit den Augen.

Mit einem voller Schokolade verschmierten Mund schlief sie irgendwann friedlich ein. In diesem Moment waren wir uns sicher: Im Grunde konnten wir ihr gar nicht böse sein.

“Was steht eigentlich auf dem Zettel?”, wollte ich von Qual später am Abend wissen. Er las vor: “Lieber Kindersitter! Fühl dich bitte ganz wie zu Hause. Groß zu beachten gibt es eigentlich nichts. Es ist nur wichtig, dass Ronja kein Eis bekommt, davon isst sie viel zu viel. PS: Falls die Zeit da sein sollte, kannst du gerne ihr Lieblingsspielzeug, eine Löwenfigur, reparieren. Wir sind zu ungeschickt dafür, und sie quängelt schon seit Tagen.” „Listige kleine Räubertochter“, murmelte ich.

Stiltest: Alexa Henning von Lange

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