Qual und der Ohrwurm

Ich stand in der Küche und bereitete gerade das Abendessen zu, als es passierte. Qual schwebte fröhlich pfeifend herein und schaltete das Radio an. Erst war nur ein ungleichmäßiges Rauschen zu hören. Dann ein paar Töne. Wieder rauschte es. Schließlich nestelte Qual genervt an der Antenne herum. Auf einmal war der Empfang einwandfrei: „… I wanna be daylight in your eyes I wanna be sunlight only warmer …“ Ich schaute ihn verwundert an. „No Angels? Ernsthaft? Könntest du netterweise umschalten?“ Doch Qual dachte nicht im Traum daran, meiner Bitte nachzugehen. „I wanna be daylight in you eyes … I wanna be love only stronger …“, tönte es derweil weiter aus dem Radio. „Qual! Ich weiß, wovon ich spreche. Letzte Warnung!“, fuhr ich ihn ungeduldig an. „Was hast du gegen den Song? Der geht doch ins Ohr“, entgegnete er und bewegte seine Flossen gekonnt im Takt. „Wanna know you better … wanna push you baby but never too far …“ Mir reichte es. Ungestüm warf ich mit der noch nicht gefüllten Bratpfanne nach dem Radio. Unter derart schwerem Beschuss fiel es auf den harten Küchenboden und verstummte für immer. Qual war vollkommen außer sich: „Du spinnst doch! Wenn du mir kein neues kaufst, kannst du was erleben!“ Zufrieden lächelte ich ihn an: „Das war es wert. Du wirst mir noch dankbar sein.“

Später hatte sich auch Qual wieder beruhigt, so dass wir endlich ungestört essen konnten. Dachte ich zumindest. Noch bevor ich den ersten Bissen herunter schlucken konnte, hörte ich es bereits. „Mmmm … dayligth in your eyes …. mm mmm mm sunlight only warmer …“ Qual saß am anderen Ende des Tisches und summte vor sich hin, während er gedankenversunken in seiner Mahlzeit herumstocherte. „Willst du mich eigentlich verarschen?“, fragte ich betont freundlich. Qual schreckte aus seinem tranceähnlichen Zustand auf. „Schmeckt sehr gut“, antwortete er reflexartig, nur um dann leise weiter zu singen: „I wanna be daylight in your eyes …“ Kopfschüttelnd sah ich ihn an. In diesem Moment wurde es ihm schlagartig bewusst. „Mir scheint, ich habe einen Ohrwurm.“

Wir setzten uns ins Wohnzimmer und wollten einen Film schauen, doch Quals Ohrwurm ließ ihn nicht los. „Es ist in meinem Kopf! Wanna know you better … wanna push you baby but never too far … argh!“, beklagte er sich. Ich zeigte mich verständnisvoll, konnte mir aber eine Spitze nicht verkneifen. „Tja, Qual. Wer hören will, muss fühlen. Oder so ähnlich.“ Er wimmerte: „Und wer nicht mehr hören will?“ Quals Leid erinnerte mich an die Zeit, in der mir selbst regelmäßig ein Song von den No Angels wie ein Insekt im Gehörgang gesessen hatte. Nicht, weil ich die Musik so sehr mochte, sondern weil so gut wie jedes Mädchen zumindest eine Weile dieses Lied exzessiv gehört hat.

„Eigentlich gibt es nur drei Methoden, um einen Ohrwurm wirklich loszuwerden“, begann ich meinen Exkurs. Qual schöpfte Hoffnung: „Und die wären?“ „Einige Freunde von mir schwören darauf, einen Ohrwurm-Song einfach übertrieben oft hintereinander zu hören. Ein Ohrwurm ist in dem Fall quasi ein Bedürfnis, das schlicht gestillt werden muss. Leider hat diese Methode den Nachteil, dass die Heilungschancen nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden können. Unter Umständen schlägt die Therapie nicht an.“ „Außerdem wollen wir lieber nicht noch einen Bratpfannenwurf von dir riskieren“, frotzelte Qual, „was gibt es noch?“

Ich fuhr fort: „Ebenfalls nicht ganz risikofrei ist die zweite Variante: Feuer mit Feuer bekämpfen! Wir suchen dir eine Auswahl ohrwurmtauglicher Lieder zusammen und hören diese in Dauerschleife. Funktioniert wie bei der eingebildeten Partyschönheit, die sich selbst für das Größte hält: Sobald sie merkt, dass andere Frauen mehr Aufmerksamkeit bekommen, sucht sie pikiert das Weite. Wenn’s blöd läuft, kommen wir damit aber vom Regen in die Traufe. Will heißen: Es ist gut möglich, dass du dir sofort den nächsten Ohrwurm einfängst und wir wieder am Anfang stehen.“ Qual schluckte. „Und die dritte Möglichkeit?“ „Mein persönlicher Favorit, aber auch ein harter und langwieriger Prozess. Behandele den Ohrwurm, als wäre er ein reales Lebewesen. Denn was passiert Lebewesen, die keine Nahrung bekommen? Sie sterben. Der Schlüssel ist also, das betreffende Lied auf gar keinen Fall mehr zu hören und einfach zu warten. Irgendwann war es das dann.“ Qual nickte, konnte sich jedoch für keine der drei Therapieangebote entscheiden. Da es schon spät geworden war, beschlossen wir es fürs Erste dabei zu belassen.

Beim Zähneputzen ließ ich den Tag Revue passieren. Ohne groß nachzudenken, kreiste die Bürste in meinem Mund, während ich auf die weißen Fliesen starrte. „… I wanna be daylight in your eyes … I wanna be sunlight only warmer …“, fuhr es mir plötzlich durch den Kopf. „Ach verdammt!“, dachte ich.

Stiltest:  Melinda Nadj Abonji

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3 thoughts on “Qual und der Ohrwurm

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