Qual und der Anhalter

Am Karfreitag fuhren Qual und ich abends mit dem Auto nach Hause. Die Woche vor Ostern hatten wir spontan für einen erholsamen Kurzurlaub an der Ostsee genutzt. Nun bewegten wir uns auf einer einsamen Landstraße in Mecklenburg-Vorpommern Richtung Autobahn. Während Qual auf dem Beifahrersitz ein Nickerchen hielt, hatte ich Mühe, gegen meine Müdigkeit anzukämpfen. Die monotone Landschaft half dabei herzlich wenig. Links und rechts von der Straße befanden sich seit einer gefühlten Ewigkeit ausschließlich brachliegende Felder. Da es auch keinen Gegenverkehr gab, waren die in den immer gleichen Abständen im Scheinwerferlicht auftauchenden Leitpfosten schon das Spannendste an der Fahrt.

Je länger wir fuhren, desto weniger schienen wir vorwärts zu kommen, so sehr glichen sich die Bilder vor meinen Augen. Unser Autoradio war bereits seit einer ganzen Weile nicht mehr nutzbar, weil Qual aus Angst vor Autodieben einmal das abnehmbare Bedienelement entfernt hatte, sich aber bis heute nicht mehr daran erinnern kann, wo er es versteckt hat. Es ging also weiter still durch die Dunkelheit. Um mich irgendwie zu beschäftigen, begann ich in Gedanken die Zeit zu messen, die wir von Leitpfosten zu Leitpfosten benötigten. Die gleichbleibende Fahrzeuggeschwindigkeit sorgte dafür, dass sich die Ergebnisse in ihrer Monotonie der Landschaft anpassten. „Eins Pfosten eins Pfosten eins Pfosten“, ging es mir durch den Kopf. Obwohl ich mir dabei sehr doof vorkam, machte ich damit weiter. Immerhin hielt es mich einigermaßen wach.

Eins Pfosten eins Pfosten eins, zwei Pfosten.“ Abrupt bremste ich. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Qual schlief dennoch felsenfest weiter. Erst nachdem ich gebremst hatte, fragte ich mich, warum das offensichtliche Fehlen eines Begrenzungspfahls, den die deutsche Straßenverkehrsordnung als Zeichen 620 führt, mich derart stutzig gemacht hatte. Ich schaute in den Rückspiegel und erschrak. Dort stand sehr wohl einer der mir so lieb gewordenen Leitpfosten. Ich hatte ihn nur nicht erkennen können, weil er von einer relativ kleinen Gestalt teilweise verdeckt worden war.

Ich sah genauer hin. Die Gestalt schien komplett in Braun gekleidet, trug eine Art Rucksack und hatte eine komische Mütze auf. Sie hielt einen Arm vom Körper weg, den Daumen der Hand nach oben. „Ein Anhalter? Um diese Zeit?“, überlegte ich und wollte gerade weiterfahren, als ich mich auf meine eigene Trampervergangenheit besann. Ich setzte vorsichtig zurück und kurbelte das Fenster herunter. „Wo soll es denn hingehen?“, fragte ich. „Vollkommen egal“, sagte eine ungewohnt tiefe Stimme, „Hauptsache weg von hier. In eine Stadt wäre ganz nett.“ „Na, dann steig ein.“ Der Anhalter nahm hinter mir Platz.

Ein Blick in den Rückspiegel ließ mich erneut erstaunen. Mein Oberkörper fuhr herum. Dort saß ein Hase von der Größe eines Schulkindes, mit langen braunen Ohren, verquollenen roten Augen und einem Weidenkorb voller Eier neben sich. „Du bist der Osterhase!“, entfuhr es mir. „Nabend auch“, sagte er. Plötzlich roch es stark nach Alkohol. „Bist du betrunken?“ Wehleidig sah er mich an. „Ich hasse meinen Job. Aber Eierlikör, den liebe ich.“ Während er das sagte, startete ich den Motor und setzte unsere Reise fort.

„Was hast du gegen deinen Job?“, erkundigte ich mich. „Der blöde Weihnachtsmann! Der hat gut lachen. Bekommt einfach die coolen Feiertage. Sind wir doch mal ehrlich: Ostern stinkt gegen Weihnachten mächtig ab!“ „Wie meinst du das?“ „Na, das haben die Jungs vom Marketing doch total ungerecht verteilt. Die Geburt von Jesus wird krass zelebriert, mit ‘ner Adventszeit und allem Pipapo. Was gibt’s vor Ostern? Da wird gefastet. Na klasse! Natürlich freuen sich die Bälger da mehr auf den Mann mit Rauschebart, bei dem es Süßigkeiten und Geschenke en masse gibt. Und wofür steht Ostern? Für die Auferstehung Jesu Christi, das erste Comeback der Popgeschichte. Das hätte man von PR-Seite her ganz anders angehen müssen. Neuer Look, neuer Stil. Aber nix da!“, redete sich der alkoholisierte Osterhase in Rage.

„Und wie sähe das dann aus?“, wollte ich nun neugierig wissen. „Keine Ahnung. Mein Name ist Hase, ich weiß von nix. Aber allein schon, was die Lieder angeht: Jeder Mensch kennt aus dem Stegreif mehr Weihnachtslieder als Ostersongs. Da muss was passieren. Irgendwas mit Pep. Kennst du zum Beispiel ein Osterlied?“ „Öhm ….zählt Klingelingeling hier kommt der Eiermann auch?“, bot ich verlegen an. „Nein, aber das hat wenigstens Pep“, gluckste der Osterhase und schlief ein.

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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One thought on “Qual und der Anhalter

Dampf ablassen!