Entspannt saß ich in der dreizehnten Reihe der Economy Class einer Boeing 747 der Lufthansa. Seit zwanzig Minuten schwebten wir in der gewünschten Reiseflughöhe über den Wolken. Qual sauste ununterbrochen und ungewohnt amüsiert durch das Flugzeug. Ich öffnete meinen Gurt und brachte meine Rückenlehne von einer aufrechten in eine horizontalere Position. Die Stewardess rollte derweil den Servicewagen durch den Gang und fragte mich, was ich trinken will. „Tomatensaft”, antwortete ich reflexartig. „Sicher?”, schaute mich der vorbeisausende Qual ungläubig an. „Hm, ich weiß auch nicht. Das muss an der Luft liegen”, überlegte ich. „Genau genommen am Niederdruck. Damit stehst du aber nicht allein da. Im Allgemeinen ist der Genuss von Tomatensaft in Flugzeugen vergleichsweise exorbitant hoch.”
Ich leerte meinen Plastikbecher in einem Zug. „Komisch, dabei trinke ich so was sonst unter keinen Umständen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass überhaupt jemand außer meiner Mutter gerne Tomatensaft trinkt”, meinte ich. „Wenn du wüsstest! Tomatensaft ist beispielsweise in Ohio seit 1965 ein bundesstaatliches Wahrzeichen, die würden dort in dem Zeug sogar schwimmen!”, wusste Qual.
„Wo fliegen wir überhaupt hin?”, wunderte ich mich. „Nach Ohio natürlich”, lachte Qual mit beinahe väterlicher Milde in der Stimme. „Was zum Geier wollen wir in Ohio? Ich habe dir doch gesagt, dass ich keinen Tomatensaft mag!” Ehe Qual antworten konnte, nahm eine Frau auf einem der freien Sitze neben mir Platz. Ihr überdimensioniertes Gesäß war mir sofort aufgefallen. Es war Jennifer Lopez. „Jennifer Lopez!”, entfuhr es mir entsprechend überrascht. „Bitte, du kannst mich J.Lo nennen”, antwortete J.Lo. „Versteh mich nicht falsch, aber warum fliegst du nicht in der Business Class?” Jennifer beziehungsweise J.Lo rutschte aufgedreht auf ihren monströsen Backen herum, ehe sie frohlockte: „Ach weißt du, ich dachte mir so: Einmal verrückt sein.” Sie grinste mich an. Ich nickte nur vorgetäuscht verständnisvoll.
Unser Gespräch, das sich in der Folge sicherlich noch in einen hochpolitischen Diskurs entwickelt hätte, wurde abrupt durch das Auftauchen eines weiteren Passagiers unterbrochen. „Entschuldigung, ist das hier Reihe dreizehn?”, wollte ein junger Typ mit Justin-Bieber-Gesicht wissen, während er nervös sein Ticket hervorkramte. Ich schaute genauer hin. Es war Justin Bieber. Sein Gesicht war kreidebleich, auf dem T-Shirt klebten Reste von Erbrochenem. „Justin! Wieso kommst du erst jetzt?”, wollte J.Lo wissen. „Ich bin reisekrank”, gestand Justin, „habe bis jetzt auf dem Klo gehockt.” Mit J.Lo zu meiner Linken und Justin Bieber zu meiner Rechten war ich also auf dem Weg nach Ohio. „Und warum sitzt du nicht in der Business Class?”, wandte ich mich schließlich an Justin. „Ach weißt du, ich dachte mir so: Einmal verrückt sein.” Er grinste mich an. Ich nickte nur vorgetäuscht verständnisvoll.
„Hier stimmt etwas ganz gewaltig nicht!”, flüsterte Qual beunruhigt. „Wie kommst du darauf?”, hakte ich, nun ebenfalls besorgt, nach. Qual beugte sich geheimnisvoll zu mir herüber: „Die Lufthansa verzichtet normalerweise auf die Vergabe einer Nummer dreizehn bei den Sitzreihen!” Plötzlich geriet unsere Maschine in heftige Turbulenzen. Unter ohrenbetäubendem Lärm riss innerhalb von Minuten ein Teil der Seitenwand auf. Sauerstoffmasken fielen von der Decke, aus allen Richtungen hörte man Schreie, und leer getrunkene Tomatensaft-Plastikbecher flogen durch den Raum. Einzig Justin Bieber schien die Contenance bewahren zu können. Seelenruhig stand er auf und stellte sich in die Nähe des nicht vorgesehenen Lochs in der Wand. Ein letztes Mal schaute er zu uns, dann sprang er „YOLO” schreiend nach draußen. J.Lo rann eine Träne die Wange herabunter, ehe alles in einer riesigen Explosion aufging.
Schweißgebadet wachte ich auf. Ich saß in der zwölften Reihe der Economy Class einer Boeing 747 der Lufthansa. Qual sah mich prüfend an. „Wo sind wir?”, fragte ich ihn. „Berlin, gerade gelandet.” Beruhigt atmete ich aus. „Ein Glück. Dann lass uns mal gehen. Ich habe tierischen Appetit auf Tomatensaft.”
Stiltest: Melinda Nadj Abonji