Qual und die Prophezeiung

Da ich seit einer Weile ohne Job war, lungerte ich zuletzt oft lustlos in der Bude herum, während mein ungewöhnlicher Mitbewohner häufiger im Viertel auf Erkundungstour ging. Merklich aufgeregt kam Qual eines Tages von einer solchen zurück in unsere Wohnung geflogen. „Bist du der Auserwählte?“, fragte er, als er mich im Wohnzimmer gefunden hatte. Einigermaßen überrascht wendete ich mich vom Fernseher ab und sah ihn kritisch an. „Auserwählte? Nicht dass ich wüsste. Wie kommst du denn darauf?“ Qual musterte mich mehrmals von oben bis unten. „Deine Jünger verkünden deinen Namen in der Stadt!“ Nun war ich vollends irritiert.

„Moment mal. Jünger? Was für Jünger?“ Euphorisch zählte er auf: „Angefangen hat alles mit der Frau Hermann aus dem ersten Stock. Die stand neulich am Gartenzaun mit der Frau Schneider von gegenüber und hat sie in einem intensiven Gespräch sofort bekehren können.“ Meine vor Verwunderung gerunzelte Stirn bekam keine Chance zur Entspannung. „Bekehren? Wozu denn? Und was hat das mit mir zu tun?“, wollte ich beunruhigt wissen. Qual wirkte ein wenig ratlos. „Nun ja, ich hatte eigentlich gehofft, dass du als Auserwählter mir das sagen könntest. Aber wenn ich das richtig verstanden habe, erkennen die Damen in dir ihren Heilsbringer.“

So langsam war mir die Sache nicht ganz geheuer. „Ich bin kein Auserwählter! Woran hast du denn bitte gemerkt, dass wirklich ich das sein soll?“ Vollkommen überzeugt berichtete Qual: „Weil sie dich fortlaufend erwähnt haben. Es besteht kein Zweifel, ich irre mich nicht. Nach ihren Vorstellungen brechen goldene Zeiten an, in denen jeder Mensch zu Hause bleiben kann und nicht mehr arbeiten gehen muss.“ Ungläubig starrte ich ihn an. Erwartungsvoll blickte er zurück. „Okay, vielleicht einmal anders gefragt: Kannst du den genauen Wortlaut des Gesprächs wiedergeben?“, bat ich ihn.

„Natürlich“, begann er seine Ausführungen. „Ich habe allerdings zugegebenermaßen nicht alles mit anhören können. Aber los ging es mit Frau Hermann. Die meinte, du sähest inzwischen aus wie der letzte Assi. Mir war dieser Begriff nicht ganz geläufig, aus dem Kontext konnte ich mir jedoch ungefähr erschließen, welche symbolträchtige Bedeutung dieser hat. Frau Schneider stimmte daraufhin jedenfalls zu, dass dank dir nun das Assitum in der Straße Einzug halte und wenn das so weiter ginge, womöglich hier bald niemand mehr arbeiten gehen würde. Nach ihrem Kenntnisstand hat die Bewegung allein in Deutschland über drei Millionen aktive Gläubige. Sogar in Spanien und Italien wirst du gefeiert, dort anscheinend komischerweise von noch mehr Menschen als hierzulande. Naja, Südeuropäer haben wohl einfach das passende Temperament dazu.“

Etwas erleichtert lachte ich laut auf. Quals Gesichtsausdruck signalisierte mir vollkommenes Unverständnis. „Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber Frau Hermann hat es dann doch anders gemeint, als du denkst. Assi kommt von asozial. Und als letzter Assi erfüllt man das gängige Erscheinungsbild schlicht in besonderer Weise. Was erlaubt die sich eigentlich?“ Ich blickte auf die Talkshow im Fernsehen und meine abgetragene Jogginghose. „Oh“, entfuhr es mir. Qual wirkte aufgrund der nun definitiv ausbleibenden Wundertaten leicht geknickt. Ich dachte nach.

„Weißt du, ich mag vielleicht nicht der Auserwählte sein. Doch wer sagt, dass ich kein Prophet sein kann?“ Qual horchte auf.

„Hiermit verkünde ich: Und es wird der Tag kommen, an dem der letzte Assi von der Couch auf die Erde herab steigt, auf dass er uns sicher geleite durch das dunkle Tal der Luxusgüter hin zu Dosenbier und Tiefkühlpizza. Von Aldi bis Penny soll jeder die Wärme spüren und auch in der Woche Jogginghosen tragen dürfen.“ „Amen!“, jubelte Qual.

Stiltest: Alexa Henning von Lange

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