Qual und die Technik (Teil 2)

Ich setzte mich auf den Boden des Fahrstuhls und grübelte weiter. „Jetzt mal ernsthaft. Nimm der Menschheit von einem Tag auf den anderen so etwas wie die Elektrizität und nichts geht mehr“, sagte ich zu Qual, „nur noch totales Chaos allerorten. Abgesehen von den Amischen vielleicht, die würden wohl nicht einmal was davon mitbekommen.“ Er entgegnete nur: „Das ist nun mal der Preis des Fortschritts. Ein Plus an Bequemlichkeit geht immer einher mit einem Minus an Selbstständigkeit und Kontrolle.“ „Du meinst, nur weil ich eine elektrische Zahnbürste benutze, habe ich meine Zahnpflege nicht mehr in der eigenen Hand?“, fragte ich etwas spöttisch nach.
„So in etwa. Übertrage dieses Beispiel in größere Dimensionen und du gibst mir recht. Das Leben vieler Menschen wird heutzutage von noch mehr Maschinen, Computern und Geräten gesteuert. Angefangen beim Radiowecker im Schlafzimmer, der über ein Funkmodul automatisch die aktuelle Uhrzeit einstellt, über den Elektroherd, der dir dein in einer rein maschinell arbeitenden Fabrik hergestelltes Fertiggericht aufwärmt, bis hin zum Großrechner im Verkehrszentrum, der die Ampelsignale an der vielbefahrenen Kreuzung im Stadtinneren steuert. All diese Dinge verbessern die Lebensqualität, machen euch aber auch abhängig von ihrer Funktionalität.“
Ich nickte. „Ist schon irgendwie beängstigend, wie viel Macht Gegenstände über mich haben,“ gab ich zu und sinnierte über das Zitat aus Fight Club. Qual sah mich mit ernster Miene an. „Wir sind von Matrix gar nicht so weit weg, wie man meinen sollte. Mit dem Unterschied, dass sich die realen Maschinen nicht die Mühe gemacht haben eine Computersimulation für euch zu entwickeln, die du erst nach der Einnahme einer roten Pille bemerken würdest. Und sie brauchen auch keine Menschen als Energieträger. Sklaven der Technik seid ihr trotzdem definitiv, was unter diesen Umständen wohl noch schlimmer zu bewerten ist, da ihr euch vollkommen freiwillig den Smartphones, PCs und sonstigen Gerätschaften der Welt unterwerft. Tag für Tag.“ „Übertreibst du jetzt nicht ein wenig?“, versuchte ich seine Aussage etwas abzuschwächen. „Mitnichten“, erwiderte Qual, „überprüfe dich doch einmal selbst. Was hast du gemacht, als dein Rasierapparat nicht ging? Wie hast du dich gefühlt, als die Batterien deiner Fernbedienung schlapp gemacht haben? Wie lange hast du für das Suchen der richtigen Nachtbusverbindungen an der Karte gebraucht, weil der leere Akku deines Handys dich am Zugriff deiner Verkehrs-App gehindert hat? Also sage mir: Wie abhängig bist du?“
Auf einmal klingelte das Telefon des Fahrstuhls. Ich schreckte auf und ging ran. „Morpheus?“ Die Leitung knackte, dann hörte ich die Stimme von vor einer halben Stunde wieder: „Morpheus? Wer is’n ditte noch gleich? Naja, hier is jedenfalls der Aufzugswärter. Jeht wieda alles. Woll’n se gleich janz nach unten fahren?“, wollte der Mann wissen. Ich überlegte nicht lange. „Nein, danke. Ich laufe lieber.“

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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