„Du kannst jetzt hereinkommen“, rief Qual nach mir. Eine Stunde hatte ich in der Küche warten müssen, ehe er mir endlich seine neueste Erfindung präsentieren wollte. Nun ging ich äußerst gespannt ins Wohnzimmer. Wie bei jeder seiner Präsentationen spielte auch diesmal wieder der CD-Player Conquest of Paradise von Vangelis. Mit einem leichten zufriedenen Nicken deutete er auf den Tisch. Dort lag ein silber angemalter Bauarbeiterhelm. Auf den ersten Blick schien nichts Besonderes an ihm zu sein. Erst bei genauerem Hinsehen sah ich, dass er vorne und an den Seiten mit diversen Klappen und Aufsätzen ausgestattet war.
„Setz ihn auf!“, drängte mich Qual. Neugierig nahm ich den Helm in die Hände. Er war deutlich schwerer als gedacht, fühlte sich beim Aufsetzen aber ansonsten wie ein ganz normaler Helm an. „Und was genau ist jetzt die Innovation?“, fragte ich bis dahin dann doch leicht enttäuscht. Qual schaltete den Fernseher ein. „Reduced Reality ist das Zauberwort“, begann er zu erklären. Skeptisch sah ich ihn an. „Reduced Reality, ja? Was kann man sich darunter vorstellen?“ Qual wies in Richtung des Bildschirms, auf dem gerade eine Scripted Realityshow zu sehen war.
Eine ehemals dreiköpfige Familie im Brennpunkt hatte heftigen Streit mit ihren Nachbarn, der nun vor Gericht ausgetragen wurde. Im Vorbericht wurde gezeigt, wie die arbeitslose Mutter der Familie mit den gesamten Ersparnissen und dem vermeintlichen Nachbarn nach Amerika durchgebrannt war. Dabei handelte es sich gar nicht um den richtigen Nachbarn, sondern nur um dessen zwielichtigen Zwillingsbruder. Aus Wut und Trotz begann das verbliebene Oberhaupt der Familie in der Folge eine verhängnisvolle Affäre mit der Nachbarsfrau, nicht wissend, dass der eigentliche Mann nur bis Dienstag auf Montage war. Bei dessen Rückkehr erwischte er beide in flagranti im damals gemeinsam mit Blut und Schweiß erbauten Werkzeugschuppen, woraufhin sich das Nachbarspaar sofort scheiden ließ. Zusammengefasst sind durch diese Ereignisse zwei Ehen und eine bis dato hervorragende Nachbarschaft zerbrochen, was die Sendungsmacher in mehreren schwarz-weiß gehaltenen Slow Motions und mit besonders wehklagenden Popsongs als Hintergrundmusik verdeutlichten. Im Streitfall ging es allerdings um den psychisch gestörten Sohn, der dem Nachbarshund regelmäßig ein Superman-Kostüm angezogen hatte und ihn Stunts ausführen ließ, beispielsweise Sprünge durch brennende Reifen und Stürze vom Dach des Hauses. Die dazugehörigen YouTube-Videos wurden zum Renner und erste Angebote für Fernseh-Interviews trudelten ein. Nach Meinung der Nachbarn gebührte ihnen ein Großteil des Ruhms und der sich anbahnenden Merchandise-Gewinne, da es ja ihr Hund und nicht der des Sohns der Familie war, was zum endgültigen Clinch beider Parteien führte.
„Das kann sich ja kein Mensch ansehen“, äußerte ich mich entsetzt, „man spürt ja förmlich, wie man beim Zuschauen von Sekunde zu Sekunde verblödet.“ Qual nickte verständnisvoll. „Genau dafür habe ich diesen Helm entwickelt. Zwar spricht alle Welt von Augmented Reality, viel wichtiger ist jedoch ausblenden zu können, was man nicht sehen will.“ So langsam ging mir ein Licht auf. „Und das ist dann Reduced Reality?“ Voller Vorfreude bewegte sich Qual kreisend um mich herum. „Exakt. Die einzelnen Visiere und Klappen ermöglichen dir eine Auswahl bezüglich der sichtbaren Farben, der Helligkeit und des Sichtfeldes. Mit den modernen und verstellbaren Dämmwänden an den Ohren kannst du bestimmte Tonlagen ausblenden und die Lautstärke allgemein regulieren. Du kannst aber auch Rauscheffekte verwenden.“
„Das ist ja phänomenal. Selektive Wahrnehmung in Perfektion. Dein Helm schützt mich also vor sämtlichen unerwünschten audiovisuellen Einflüssen?“ „Richtig, du brauchst nur die entsprechenden Konfigurationen vorzunehmen.“ Ich spielte ein wenig an seinem Prototypen herum. „Dir gefällt meine Erfindung? Bestens. Machst du dann jetzt Abendbrot? Hallo?“ Doch das hörte ich schon nicht mehr.
Stiltest: Sigmund Freud