Qual und die Mutprobe

Dank mehrerer spekulativer wie spektakulärer Aktiengeschäfte mit Wertpapieren diverser Spielzeughersteller hatte Qual in kurzer Zeit ein hübsches kleines Sümmchen an der Börse erwirtschaftet. Statt nun aber richtig ins Geschäft einzusteigen und das ganz große Geld zu machen, verlor er alsbald das Interesse an DAX und Co. und widmete sich in der Folge wieder anderen Dingen.

Darauf angesprochen, warum er erst damit anfängt und dann so schnell wieder aufhört, meinte er nur lapidar: „Es ist kein Spiel mehr, wenn man weiß, dass man gewinnt. Und wenn es kein Spiel mehr ist, macht es keinen Spaß.“ Diese Antwort überraschte mich nicht. In den letzten Wochen wirkte Qual seltsam antriebslos und unmotiviert.

Anfangs konnte er sich noch mit immer ungewöhnlicheren Tätigkeiten ablenken. So belegte er zunächst von Sorbisch bis Plattdeutsch alle möglichen Online-Sprachkurse, fing danach sogar drei verschiedene Fernstudiengänge an und wurde letztlich Mitbegründer einer deutschlandweit tätigen Untergrundorganisation, die tagsüber nach Umweltverschmutzern Ausschau hält, deren Wohnsitz und Arbeitsplatz ausfindig macht und die Sünder dann je nach Schwere des Vergehens für ihre Frevel an der Natur bestraft. Unser Nachbar, der auf dem Weg zur Papiertonne ein A4-Blatt verlor und es nicht aufhob, sondern liegen ließ, wurde beispielsweise mit insgesamt 300 Kilogramm Konfetti in der Wohnung und im Büro überrascht.

Doch was Qual auch begann, nach einer Weile überkam ihn stets die Lustlosigkeit. Bitter für mich an Quals Abkehr vom Börsenhandel war die Tatsache, dass ich das zusätzliche Geld hätte echt gut gebrauchen können. Kurz nachdem Qual bei mir eingezogen war, vereinbarten wir, dass er nur für Kosten und Leistungen aufkommen muss, die er selbst verursacht hat. An der Miete ist er hingegen nicht beteiligt. Während sich sein Kontostand daher neuerdings im stark grünen beziehungsweise tiefschwarzen Bereich bewegte, sah es bei mir für den Moment weniger rosig aus.

Natürlich wusste Qual um meine finanzielle Notlage. Beim Abendbrot sprach er mich an: „Willst du ein Spiel spielen?“ Misstrauisch sah ich ihn an. „Kommt darauf an. Woran denkst du?“ Qual warf mir einen prüfenden Blick zu, ehe er antwortete: „Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Ich kann es mir nicht genau erklären, aber seit geraumer Zeit plagt mich eine gewisse Trägheit. Nichts kann mich lange beschäftigen, ohne dass es mir überdrüssig wird. Ich fühle mich wie die reiche Ehefrau eines Schönheitschirurgen, die in der Woche zwischen den Kaffeeklatschrunden mit ihren ebenfalls steinreichen Freundinnen noch fix beim Yoga und Tennis vorbeischaut.“ „Spießig?“, warf ich ein. „Nein. Obwohl, das auch. Aber es ist vielmehr die Gewissheit, dass ich trotz offensichtlichem Überfluss nicht glücklich bin. Mir fehlt nichts Materielles. Ich brauche etwas anderes.“ Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme hinter meinem Kopf. „Und das wäre?“ Qual sprach sehr leise, trotzdem konnte ich ihn verstehen: „Macht!“

Ich schluckte. „Und wie kann ich dir da helfen?“, fragte ich aufgeregt. „Hast du als Kind bei Mutproben mitgemacht?“ Nachdenklich blickte ich an die Decke. „Denke schon. Kann mich nur an keine erinnern. Willst du Mutprobe spielen?“ Qual grinste. „So ähnlich. Es läuft so: Ich gebe dir eine Reihe an mal mehr, mal weniger schweren Aufgaben. Erfüllst du sie, bekommst du eine Prämie dafür. Je schwieriger eine Mutprobe ist, desto mehr kannst du verdienen.“ „Wo ist der Haken?“, wollte ich wissen. „Es gibt keinen“, versicherte Qual, „aber die Aufgaben sind nicht ohne.“ Ich willigte ein.

Am nächsten Tag gingen wir durch die Stadt. „Zehn Euro, wenn du dem Mann dort drüben am Bart ziehst und Ding Dong sagst“, bot Qual sofort an. Zögernd beobachtete ich den Auserwählten, der unschuldig aus der Sparkasse kam und seine Kontoauszüge einsteckte. „Warum willst du, dass ich das tue?“ „Ich will sehen, wie weit du für Geld gehen würdest und wo deine Grenzen liegen. Gleichzeitig gibst du mir das Gefühl dich kontrollieren zu können.“ Während er das sagte, streichelte er eine weiße Katze. „Na fabelhaft“, stöhnte ich. Vorsichtig näherte ich mich dem Mann und stellte mich direkt vor ihn. Ohne Vorwarnung griff ich nervös etwas zu kräftig zu, sein Kopf bewegte sich ruckartig nach unten. Das Opfer sah mich zunächst sehr überrascht, dann sehr sauer an. „Ding Dong“, hauchte ich, ehe ich schleunigst das Weite suchen musste, weil der Bartträger seine geballte Faust meinem Gesicht vorstellen wollte und dabei laut brüllte. Im Zickzack rannten wir über den Alexanderplatz. „Money money money … must be funny … in the rich man’s world“, summte Qual endlich zufrieden.

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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