Als wir wieder einmal ein paar DVDs für einen gemütlichen Fernsehabend ausleihen wollten und schon eifrig dabei waren in den Regalen der Videothek zu stöbern, wurden wir plötzlich durch einen Heidenlärm vom Lesen der Klappentexte abgelenkt. Mehrere komplett schwarze Lieferwagen mit getönten Scheiben kamen in einem Affentempo angerast und hielten mit quietschenden Reifen am Eingang. Aus jedem Van stiegen vier ausnahmslos mit Sturmhaube und Sonnenbrille vermummte Personen in ebenfalls schwarzen hautengen Overalls. Aus den Wagen nahmen sie hastig mehrere schwarze Kisten und betraten schnellen Schrittes die Videothek.
Weder an den Fahrzeugen, noch an den Unbekannten war irgendwo ein Hinweis auf deren Herkunft oder gar Auftraggeber zu finden. Gezielt und präzise begannen sie mit der Umsetzung ihres Plans: Anscheinend war jeder Wagen für eine Abteilung zuständig. Jeweils zwei pro Auto räumten die Regale einer Abteilung bis auf den letzten Film leer, die anderen beiden entnahmen den mitgebrachten Kisten stapelweise DVD-Hüllen und sortierten sie in die freigewordenen Plätze ein. Für die ganze Aktion benötigte die Bande keine zwanzig Minuten. Die hoffnungslos mit der Situation überforderte und gleichzeitig unterbezahlte studentische Aushilfskraft an der Kasse schwankte zu Beginn noch zwischen heldenhafter Gegenwehr oder stiller Kooperation. Doch spätestens als einer der Bandenmitglieder die Kameras der Videothek mit Kaugummis verklebt hatte und ihm die restlichen aus der Packung nebst einer Flasche Club Mate über den Tresen schob, lehnte er sich entspannt zurück.
Wir standen die ganze Zeit über regungslos da und beobachteten gespannt das Geschehen. In einer Hand hielt ich noch die DVD zu Fight Club. Einer der Fremden bemerkte dies und kam langsam auf mich zu. Einen Schritt vor mir blieb er stehen und blickte stumm durch die Sonnenbrille erst in meine Richtung, dann auf die Hülle. Schließlich nahm er mir den Film weg, zeigte mir seinen nach oben gestreckten Daumen und drückte mir eine andere DVD in die Hand. Mit drei Tönen auf einer schwarzen Flöte gab er seinem Team wohl das Zeichen für den Abzug. Jedenfalls versammelte sich der Trupp blitzartig, verließ geschlossen die Videothek und brauste abermals mit quietschenden Reifen davon.
Verdutzt rieb ich mir die Augen. „Was war das?“, fragte ich Qual. „Ich habe nicht den blassesten Schimmer“, gestand er. Erst jetzt sah ich mir die vom Unbekannten zugesteckte Hülle an. Das Cover schien exakt dasselbe zu sein, doch dann fiel mir der Unterschied auf. „Die haben die Filmtitel geändert. Fight Club heißt jetzt Fight Club Mate“, bemerkte ich erstaunt. Qual schwebte durch die Gänge und warf einen Blick auf weitere DVDs. „Tatsächlich, hier auch. Und dann kam Polly Pocket, Karate KitKat, Indiana Jack and Jones, Der Soldat James Ryanair …“, zählte er auf. „Und wozu das Ganze?“, wollte ich ungläubig wissen. „Was denkst du denn? Die Firmen wollen ihre Produkte besser verkaufen, was sonst?“, entgegnete Qual.
Ich zuckte mit den Schultern. „Naja, solange E.T. nicht auf einmal mit einem iPhone nach Hause telefoniert, sind mir die Kommunikationsstrategien der Hersteller ziemlich egal.“ Energisch schüttelte Qual den Kopf. „Aber versteh doch! Das ist keine Markenkommunikation mehr – das ist Werbetotalitarismus! Die kommerzielle Durchdringung aller Bereiche in Staat und Gesellschaft. Es fängt mit den Namen für Fußballstadien an, geht weiter mit Filmen und Serien und wird irgendwann mit öffentlichen Einrichtungen und Dienstleistern aufhören. Erst hast du einen Termin beim Aronal und Elmex-Zahnarzt, gehst dann mit deinen Kindern in den Whiskas-Zoo, ehe du abschließend wegen deiner Einkommenssteuererklärung noch schnell zum Zewa-Finanzamt musst.“ Irritiert sah ich Qual an. „Warum gerade Zewa für das Finanzamt?“ „Das liegt doch auf der Hand“, begann er leicht genervt zu erklären, „da passen Werbeslogan und Arbeitsweise am besten zusammen: Mit einem Wisch ist alles weg.“
Stiltest: Sigmund Freud