Qual und das Gewerbeamt

Qual hatte letzte Woche eine neue Geschäftsidee. Seitdem er gehört hatte, dass der Flaschenpfand in Deutschland eventuell von 25 auf 50 Cent erhöht wird, feilte er an einem System, mit dem er in kurzer Zeit eine beträchtliche Zahl an Pfandflaschen erhält, um diese dann zum Zeitpunkt der seiner Meinung nach bevorstehenden Umstellung für den dann doppelten Betrag einzulösen. Auf diese Weise hoffte er sein eingesetztes Kapital schlagartig zu erweitern. Trotz heftiger Einwände meinerseits war er wild entschlossen, diesen Plan umzusetzen. Sein hochkomplexes logistisches Vorhaben benötigte seiner Ansicht nach eine rechtliche Absicherung, da er unter Umständen sogar Angestellte in Betracht zog. Deshalb fanden wir uns am Mittwochmorgen bei unserem zuständigen Gewerbeamt ein.

Qual und das Gewerbeamt

Bild: Carolin Rauh

Im überfüllten Wartezimmer nahmen wir in der hinteren linken Ecke Platz. Obwohl der Raum mit uns vollends belegt war, hörte man keinen einzigen Mucks. Einzig der Wasserspender neben dem Eingangsbereich gluckerte fröhlich vor sich hin. Während es in Wartezimmern von Zahnärzten und dergleichen wenigstens halbwegs interessante Lektüre zum Herumblättern gibt, lagen dort nur Infobroschüren zur Industrie- und Handelskammer und zu Wegen in die Selbstständigkeit. Über einer Milchglastür, hinter der sich das Großbüro befand, leuchtete eine Anzeige. Das rote Digitaldisplay zeigte die Zahl 38. Ich blickte auf unsere gezogene Nummer und sah eine 66. Ich seufzte und erntete sofort böse Blicke. Peinlich berührt nahm ich mir eine Infobroschüre und versteckte mein rot angelaufenes Gesicht dahinter.

Mit derart eingeschränktem Sichtbereich bemerkte ich zunächst nicht die Gestalt, die sich soeben aus dem Büro schlich. Die Anzeige schaltete mit einem Piepen auf die 39. „Was ist das denn für ein merkwürdiger Typ?“, flüsterte mir Qual zu. Nun sah ich auf. Unter der Anzeige stand ein kleiner Mann, der mehrere Dokumente in seinem Ordner sortierte. Eigentlich war es eher ein Männchen. Würde man es auf der Straße sehen, könnte man es aufgrund seiner Größe für ein Kind halten, wäre da nicht dieser wallende Rauschebart. Irgendwie eigenartig war zudem die Tatsache, dass es grüne Leggins und eine Zwergenmütze trug. Ich sah genauer hin. An der linken Brust war ein Namensschild befestigt. „Das ist das Rumpelstilzchen!“, rief ich erstaunt. Mein Ausspruch holte die Wartenden aus ihrer Lethargie, der ganze Raum war plötzlich voller Gemurmel. Manche zeigten mit dem Finger auf das Rumpelstilzchen.

Mit hochrotem Kopf reagierte es auf die veränderte Situation: „Das hat Dir der Teufel gesagt!“ Mit vielen kleinen Schritten flitzte es erbost nach draußen. Vorwurfsvoll sah mich Qual an. „Meinst du, wir sollen mal nach ihm sehen?“ Er nickte mir zu. Das Rumpelstilzchen saß auf der Treppe vor dem Gewerbeamt und hatte das Gesicht in seine Hände vergraben. „Entschuldigung …“, begann ich zaghaft. „Was willst Du?“, fuhr es mich an. „Nun ja, ich wollte um Verzeihung bitten, weil ich Dich da drin bloßgestellt habe.“ Das Rumpelstilzchen winkte mit seiner Hand ab. „Ach, schon okay.“ Mit tiefen Augenringen sah es mich müde an. Ich lächelte ihm freundlich zu. „Ohne jetzt neugierig sein zu wollen … aber was machst Du hier?“

Das Rumpelstilzchen lachte verzweifelt. „Wann hast Du das letzte Mal ein Märchen gesehen?“, fragte es dann. „Ist schon ein Weilchen her“, gab ich zu. „Siehst Du. Damit bist Du aber nicht der Einzige. Kinder schauen sich heutzutage keine Märchen mehr an, sondern spielen am Computer oder schauen Zeichentrickfilme“, erklärte es mir melancholisch, „die Branche ist kein Goldesel mehr. Viele von uns haben umgesattelt, manche kommen mit der Situation allerdings gar nicht klar. Kennst Du noch Frau Holle?“ „Ja klar.“ Das Rumpelstilzchen schluckte. „Die ist jetzt Alkoholikerin. Das Rotkäppchen ist inzwischen eine reife Rotkappe und strippt unter ihrem Künstlernamen Red Cap in billigen Hamburger Tittenbars. Und der Froschkönig ist nur noch auf Koks, hat sogar seinen goldenen Ball für das Zeug eingetauscht.“ Qual und ich sahen uns erschrocken an. „Das ist ja grauenvoll! Und wie kommst du zurecht?“ „Macht Euch keine Sorgen, mir geht es gut. Habe mich heute selbstständig gemacht. Ich leite jetzt eine Umzugsfirma namens Entrümpelstilzchen. Anerkennend klopften wir ihm auf die Schulter, ehe es sich von uns verabschiedete. Als es die Straße entlang ging, hörten wir es singen: „Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich die Sachen runter schmeiß’.“

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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