Qual und das Mittelalter

Nachdem ich bis tief in die Nacht mit Freunden feiern war, freute ich mich an einem Sonntagmorgen am meisten auf eine schöne warme Dusche. Danach wollte ich eigentlich bis in den späten Nachmittag schlafen und dann das Wochenende in Jogginghose auf der Couch lümmelnd gemütlich ausklingen lassen. Was ich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wusste: Unser Warmwasserboiler hatte just vom Samstag zum Sonntag den Geist aufgegeben (was im Zusammenhang mit Qual eine durchaus tiefere Bedeutung hat). Derart unvorbereitet und mit dem Duschkopf als modernes Damoklesschwert über mir, griff ich deshalb etwas müde, aber beherzt und in voller Vorfreude auf wohltemperierte Wassermassen nach dem Hahn. Als die ersten kalten Spritzer meinen Körper erreichten, führte das am Ende der Reizreaktionskette zu einem spitzen Schrei meinerseits, der dem in Alfred Hitchcocks Psycho in Nichts nachstand.

Bild: Carolin Rauh

Bild: Carolin Rauh

Aufgeregt kam Qual herbeigeeilt. „Was ist denn hier los?“, fragte er mich verwundert, als er mich heftig bibbernd im Bad vorfand. „Kein warmes Wasser“, schlotterte ich, „kaltes Wasser.“ Qual betrachtete fachmännisch unseren Boiler. „Der hat ja auch keinen Strom, muss am Kabel liegen.“ Da ich noch zu großen Teilen voller Duschbad war, blieb mir nichts anderes übrig als mich kalt weiter zu waschen. „Zustände wie im Mittelalter sind das hier!“, schimpfte ich entnervt, während ich mich zur Hygiene quälte. Qual lachte lautstark. „Was weißt Du schon vom Mittelalter? Das ist doch nur wieder mal der Beweis, dass ihr Menschen heutzutage viel zu verwöhnt seid. Kabelfernsehen, warmes Wasser, Autos…früher kamen die Menschen auch ohne all das zurecht.“ Erbost erwiderte ich: „Wer ist hier verwöhnt? Ich bestimmt nicht! Wenn es sein müsste, könnte ich auf vieles verzichten!“ Verschmitzt sah Qual mich an. „Gut, machen wir den Test. Du lebst eine Woche lang ohne die vermeintlichen Errungenschaften der heutigen Zivilisation, dafür bin ich danach für den gleichen Zeitraum Dein Vasall. Schaffst Du es jedoch nicht oder gibst auf, bin ich logischerweise Dein Herr.“ Quals Augen funkelten herausfordernd. Zwar traute ich seinem Angebot noch nicht so ganz, ging aber trotzdem siegessicher auf die Wette ein.

Als ich später auf die Toilette gehen wollte, lag auf der Klobrille ein von Qual handgeschriebener Zettel: Wasserspülungen gibt es in Deutschland erst ab dem 19. Jahrhundert. Neben dem Klo stand zudem ein neuer Blecheimer, in dem ebenfalls ein Zettel lag: Dein neuer Nachttopf. „Ist das Dein Ernst?“, rief ich entsetzt. Fröhlich grinsend schwebte Qual herbei. „Wie meinen?“ „Ich soll in dieses Ding hier machen? Und dann am besten noch mein Geschäft aus dem Fenster kippen, dem verdutzten Briefträger vor die Füße?“, fuhr ich ihn an. Qual machte eine beschwichtigende Handbewegung. „Das hängt natürlich von Deiner Treffsicherheit ab … alternativ dazu kannst Du aber auch das Plumpsklo im Garten verwenden, das ich Dir dort hingestellt habe. War mir nur nicht sicher, ob Du nachts wirklich Lust hast bis dorthin zu gehen.“

Sprachlos eilte ich nach draußen und betrachtete Quals Werk. Zwischen zwei Apfelbäumen und vor der Hecke zum Nachbarsgrundstück stand tatsächlich ein professionell gezimmertes Holzgebilde. Sogar die typische herzförmige Öffnung in der Tür war vorhanden. So langsam dämmerte mir, dass ich dieses Spiel nicht gewinnen konnte. „Okay, ich gebe auf. Du bist mein Herr. Aber nur, weil ich Angst vor dem habe, was noch kommen könnte.“ Mit königlicher Milde nickte Qual mir zu, konnte sich ein triumphierendes Lächeln aber nicht verkneifen. Neugierig betrachtete ich weiter das Plumpsklo. „Ich fasse es nicht, wann hast Du das denn nur gebaut?“, staunte ich immer noch ungläubig. „Ich hab das Plumpsklo nicht gebaut …“, gab Qual zu, „eBay Kleinanzeigen, da bekommt man alles. Und nun zieh dich lieber um, Du hast eine Woche Latrinendienst. Habe unseren Nachbarn einen Zettel in den Briefkasten geworfen, dass jeder das Klo benutzen darf.“

Stiltest: Melinda Nadj Abonji

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