Qual und die Mehrklassengesellschaft

Vergangene Woche habe ich es tatsächlich geschafft, dass Qual endlich mit mir Fußball schaut. Als Ausgleich musste ich ihm zwar im Vorfeld versprechen ihn einmal ins Theater zu einem Stück seiner Wahl zu begleiten, nahm dies aber etwas leichtfertig billigend in Kauf. Mit reichlich Bier und Knabbereien ausgestattet, sah ich uns bestens vorbereitet für neunzig Minuten plus Nachspielzeit voller Kampf, Leidenschaft und Spannung. Immerhin liefen gleich mehrere hochkarätige Partien der UEFA Champions League. Doch schon kurz nach dem Anpfiff war abzusehen, dass Qual nicht gerade ausufernde Freude für diesen Sport entwickeln würde.

Während ich lautstark Schiedsrichterentscheidungen anzweifelte, vergebenen Chancen nachtrauerte und voller Glücksgefühle Chips durch die Luft schmiss, wenn ein Tor auf der richtigen Seite fiel, zeigte er keinerlei Regung. Mit stoischem Blick verfolgte er das Geschehen auf dem Rasen, schien sich dabei aber nur zu wünschen, dass die Zeit umso schneller vergeht, je eindringlicher er schaut. „Enges Spiel, was?“, versuchte ich einen fachmännischen Fußball-Smalltalk zu beginnen. Unverändert starrte Qual auf den Bildschirm. „Der hat schon in der Liga für Furore gesorgt, neulich sogar mit einem Viererpack“, wusste ich die gute Aktion eines Stürmers zu kommentieren. „Aaaaah, den muss er machen!“, ergänzte ich kurz darauf, als derselbe Spieler die Pille nach feinem Zuspiel fahrlässig neben das Tor setzte.

Bild: Carolin Rauh

Bild: Carolin Rauh

Nun drehte Qual seinen Kopf langsam in meine Richtung. „Vielleicht wollte er einfach nicht“, sagte er leise. „Was?“, fragte ich verdutzt. Er seufzte. „Naja, vielleicht wollte er gerade kein Tor schießen. Man kann ja auch nicht immer Lust darauf haben.“ Vollkommen irritiert sah ich Qual an. „Er wollte nicht? Aber da geht es um Millionen! Um das Weiterkommen! Um den Sieg! Wie kann man da deiner Meinung nach als gelernter Knipser kein Tor schießen wollen?“ Qual verschränkte die Flossen hinter dem Kopf und holte tief Luft.

„Wenn ich Fußballer wäre und mir vorstellen würde, wie unzählige untalentierte, bierbäuchige Männer bei jedem Spiel vor dem Fernseher hocken und meine Aktionen mit Sätzen wie den muss er machen bewerten, dann würde ich schon aus Prinzip kein Tor machen. Zumindest nicht jedes Mal. Ich habe doch meinen freien Willen und lasse mir nichts von Möchtegern-Experten befehlen.“ Vorsichtig griff ich mir an den Bauch und überlegte, ab wann eine Bierplautze eine Bierplautze ist und wie viele Tore ich beim letzten Freizeitturnier geschossen hatte.

Qual redete sich derweil in Rage. „Irgendwo ist ja auch genau das das Problem: Es geht nur noch um das liebe Geld, um maximalen Gewinn. Hat man früher von einem Derby gesprochen, spielten die Bewohner von Dorf A gegen die Bewohner von Dorf B, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Heute ist die geografische Nähe bei Derbys zwar nach wie vor gegeben, aber die Spieler kommen doch oft von sonst wo! Wie kann man denn ernsthaft Fan einer zusammengekauften Truppe von Söldnern sein? Da waren ja Gladiatorenkämpfe im alten Rom authentischer.“

Ich war verblüfft von Quals schonungsloser Analyse und der durchaus berechtigten Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung im Fußball. Danach übertrieb er es aber: „Generell finde ich es bedenklich, wie dieser Sport als Ersatz für kriegerische Auseinandersetzungen herhält. Da wird überall geköpft und geschossen und es werden Konterangriffe eingeleitet und die Defensive gestärkt. Die Mannschaften werden von einem Kapitän auf das Feld geführt. Eigentlich erstaunlich, wie Spieler bei dem Getümmel einfach einnicken können.“

„Einnicken?“, unterbrach ich ihn. „Es heißt doch immer: Der Angriff läuft erfolgreich über die Flanke und der Stürmer braucht nur noch einzunicken. Was aber aus gesellschaftlicher Sicht meines Erachtens viel bedenklicher ist: Da feiert man Errungenschaften wie die Demokratie und Menschenrechte, teilt die Vereine aber trotzdem in verschiedene Klassen mit unterschiedlichem Zugang zu Ressourcen wie TV-Geldern auf… 1. Bundesliga, 2. Bundesliga, 3. Liga…die Renaissance der gelebten Mehrklassengesellschaft!“

Stiltest: Ildiko von Kürthy

FacebookTwitterGoogle+Email

Dampf ablassen!