Qual und das Dringlichkeits-Chaos

Am Morgen des Tages, der meine noch junge berufliche Karriere entscheidend beeinflussen sollte, wechselte ich gehetzt vom Wecker aus meinem Schlaf- in meinen Adamsanzug und begann unter der Dusche mit der ausführlichen Körperpflege. Während Rumpf und Extremitäten alsbald vor Sauberkeit strahlten, als wären sie unschuldige Kinder, die augenblicklich ihr erstes Überraschungsei von den Großeltern bekommen, traf dies auf mein Haupthaar noch nicht zu.

Der Griff zum entsprechenden Reiniger gelang mir trotz der noch vorherrschenden Müdigkeit zielsicher. Dennoch gestaltete sich der Waschvorgang mühsam. In einem Akt zügelloser Verschwendung und wachsender Begeisterung für massiv expandierende Schaummassen hatte Qual anscheinend just vor mir fast den gesamten Inhalt des Shampoos verbraucht. „Ausgerechnet heute“, grummelte ich.

Durch kräftige, rhythmische Pumpbewegungen der Finger meiner rechten Hand, gelang es mir unter heftigem Stöhnen zumindest einige wenige Tropfen des wohlriechenden Extrakts aus der Flasche auf meinen Skalp zu befördern. Nicht einmal Frauen, die neben ganz viel Kot, Urin und Blut auch noch ein Kind zur Welt bringen, müssen so pressen. Leidlich optisch hergerichtet und schon viel zu spät dran, eilten Qual und ich anschließend zum Bahnhof.

Natürlich verpassten wir den anvisierten Zug, der mich pünktlich zu meinem Bewerbungsgespräch bringen sollte. „Ausgerechnet heute“, grummelte ich erneut und kickte frustriert eine leere Cola-Dose vom Bahnsteig aufs Gleis. „Klassischer Fall von Dringlichkeits-Chaos“, kommentierte mein Begleiter das Geschehen. Da das sprichwörtliche Kind bereits in den Brunnen gefallen war und dabei weder an Schwimmflügel geschweige denn Kiemen gedacht hatte und damit einem qualvollen Tod ins Auge sah, beschloss ich meinen Groll im Zaum zu halten und Quals Kommunikationsbedarf zu stillen. „Dringlichkeits-Chaos?“, fragte ich also.

Er hob erklärend seine Flosse: „Das Dringlichkeits-Chaos besagt, dass Dinge gefühlt immer dann schiefgehen, wenn sie es aus Sicht des Individuums auf gar keinen Fall dürfen. Deswegen sind Eier stets dann ausverkauft, wenn man Heißhunger auf Rührei hat. Deshalb kommt es zu einem Stromausfall, wenn es gerade ins Elfmeterschießen geht. Oder man verpasst eben Züge, wenn man unbedingt pünktlich sein will.“ Ich dachte über seine Theorie nach. „Und was kann man dagegen machen?“, wollte ich wissen. Qual lachte wie jemand, der soeben erfahren hat, dass es Menschen gibt, die Bielefeld schön finden: kein Stück. Nicht mal ein Lächeln. Genau genommen, sah er mich einfach nur mitleidig an, als hätte ich soeben gesagt, ich wäre gern Gott.

Schließlich antwortete er vollkommen ernst: „Überhaupt nichts. Diese Dinge passieren nun mal. Was jedoch viele Menschen ausklammern: Sie tun es auch das ganze Jahr über. Doch erst wenn es um wichtige Angelegenheiten geht, die nicht wie geplant verlaufen, brennt sich dieses unerfreuliche Ereignis in euer Gedächtnis ein. Dabei werden ständig und allerorten Menschen pünktlich zum Urlaub krank, sind Geburtstage verregnet oder haben Autos einen Motorschaden. Aber das registriert ihr Egoisten nicht.“

Nachdenklich kratzte ich mich am Kopf. „Was empfiehlst du mir denn jetzt?“ Qual schwebte zum Gleis, schnappte sich die Cola-Dose und warf sie in den Mülleimer neben mir. Dann sagte er: „Nimm es locker. Ein Problem ist erst dann ein Problem, wenn man eines daraus macht.“ So richtig konnte ich mich mit dieser Sichtweise nicht anfreunden. „Wenn man eines daraus macht? Was soll es denn vorher sein? Ein Teller der Schicksals-Suppe, die man sich irgendwann selbst einbrockt?“ Qual nickte bedächtig. „Das trifft es ganz gut. Dem einen schmeckt es, dem anderen nicht. Aber satt wurde am Ende noch jeder – auch wenn man ab und an mal in einen sauren Apfel beißen muss. So ist das Leben.“

Stiltest: Ildiko von Kürthy

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