Qual und die Langeweile

An einem gewöhnlichen Tag bei gewöhnlichem Wetter saßen wir ungewöhnlich still in der Wohnung. Die Sonne konnte sich nicht wirklich zum Scheinen entscheiden, aber total bewölkt war es auch nicht. Im Fernsehen lief die x-te Variante von Scripted Reality. Schon wieder. Oder immer noch? Ein Bauer im Brennpunkt hatte seine Frau getauscht, wusste aber nicht mehr mit wem, geschweige denn wogegen. Haben die Autohändler etwas damit zu tun? Ein Fall für die Schulermittler und die Kommissare von K11.

“Das Daewoo K11 ist das Gewehr des südkoreanischen Militärs”, warf Qual ein Mosaikstückchen seines scheinbar grenzenlosen Wissens in die Runde. Ich nickte anerkennend, konnte mich aber nicht wie sonst für seine ihm eigene Didaktik begeistern. Nicht einmal das Fremdschämen für das im TV gezeigte machte diesmal Spaß. “Mir ist langweilig”, klagte ich. “Dann bring den Müll runter”, schlug Qual postwendend vor. Ich betrachtete die übergequollenen Eimer und die vielen Tüten. “Das ist aber auch langweilig.” Nach Heidegger gibt es drei Phasen der Langeweile, ich fühlte mich in allen omnipräsent. Ich schaute erneut auf den Müll. “Sage mal, hast du den Müll getrennt und dann nach Farben sortiert?” “Naja…mir war langweilig.”

Qual und die Angst

Wir saßen vor dem Fernseher und trugen unseren üblichen Wettbewerb aus – Wer zuckt, verliert! Dazu reihten wir die besten Streifen von George Andrew Romero und sonstige Filme, die ein “Dead” im Titel führten, vor dem DVD-Player auf und schauten sie uns nach und nach an. Bisher hatte Qual stets gewonnen, heute lag ich gut im Rennen. Bis er mich nach einer Zombie-scheint-endgültig-tot-zu-sein-ist-es-aber-doch-nicht-und-stellt-dies-mit-einem-gezielten-Biss-in-den-Hals-der gutaussehenden-Blondine-zur-Schau-was-den-endgültigen-Tod-der-Blondine-zur-Folge-hat-Szene mit Popcorn bewarf. Ich schrie peinlich laut, Qual grinste diebisch. “Kannst du dich überhaupt erschrecken?”, wollte ich gedemütigt wissen. “Wenn man tot ist, sieht man die Dinge entspannter. Abgesehen von deiner fehlenden Körperbeherrschung ist für mich also kaum etwas erschreckend”, erwiderte er, “dabei dürfte es euch eigentlich kaum anders gehen.” Ich rollte mit den Augen: “Was hat das jetzt wieder zu bedeuten?” Qual drückte auf Pause, im Standbild war der Zombie zu sehen, wie er sich mit den Eingeweiden der Blondine schmückte.

“Es ist doch so…der eigentliche Sinn des Angstgefühls, die Selbsterhaltung, ist bei euch Menschen doch kaum noch notwendig. In eurem Großstadtgehege kann im Vergleich zur Tierwelt nichts passieren. Ihr werdet höchstens von Kredithaien oder Baulöwen gefressen. Eure Angst hat sich transformiert, weg vom evolutionsbiologischen Hintergrund. Ihr sorgt euch meist nur, dass euer Idealbild von einem Leben in der Gesellschaft verfehlt wird. Ob nun in materieller oder sozialer Hinsicht. “Hoffentlich werde ich nicht gefeuert”, “Ich will nicht, dass mein Partner mich verlässt” oder “Bitte lass mich im Alter nicht fett werden”. Das, was bei Horrorfilmen zutage kommt, die Furcht vor starken Bildern, sind nur emotionale Rudimente aus der Zeit, als selbst der Mensch noch angreifbar war. Aber ihr entwickelt dafür in großem Maße Phobien, das ist beeindruckend. An sich gibt es nur zwei Arten von Angst: Bei der einen weiß man zu viel, bei der anderen zu wenig. Wenn ich mir überlege, wozu der Mensch in der Lage ist, dann habe vielleicht auch ich Angst…”

Qual und das Telefon

“Kannst du mir mal kurz helfen?” rief Qual hörbar entnervt. Auf dem roten Küchentisch lagen diverse Anleitungen, Kopfhörer, Ladekabel und die Verpackung von einem Smartphone. “Du hast dir eins gekauft?! Wozu? Und überhaupt…wieder von meinem Geld???” Qual überging gewollt den Finanzierungsaspekt und sagte: “Tja, man muss ja mit der Zeit gehen. Außerdem muss ich für meine Kontakte erreichbar sein.” Ich dachte  kurz nach. “Aber du hast doch niemanden außer mir, oder?” Jetzt musste Qual überlegen. “Das reicht mir. Ich weiß oftmals nicht wo du steckst. Wenn ich mir dann Sorgen mache, kann ich mich erkundigen”, freute er sich. Ich stöhnte auf und überlegte, ob Qual schon von der Nummer-blockieren-Funktion gehört hatte und wie ich ihm das gegebenenfalls als Systemfehler verkaufen könnte.

“Wo ist nun dein eigentliches Problem?”, fragte ich auf  ärgere Schwierigkeiten, die mir zumindest noch ein ruhiges Wochenende bescheren würden, hoffend. Mit Grimm hielt mir Qual das Smartphone entgegen. “Dieser neumodische Kram ohne Tasten funktioniert nicht!” Wir überflogen die technischen Hinweise. “Dein Smartphone hat einen kapazitiven Touchscreen, da kommst du mit deiner Geisterflosse nicht weit. Nimm einen leitfähigen Eingabestift, dann sollte das gehen. So, ich muss los, bis später!” Kurz nachdem ich das Haus verlassen hatte, erhielt ich eine Nachricht: “Hab übrigens auch eine SMS-Flat :) Gruß, Qual

Qual und der Krieg

“Ihr Menschen habt euch ja quasi ständig in den Haaren”, stellte Qual bei einer seiner vielen Sitzungen mit dem Geschichtsbuch fest, “wie könnt ihr nur so destruktiv sein?” Er hatte Recht. Seitdem unsere Vorfahren von den Bäumen runtergekommen sind, haben sie ihre freigewordenen Gliedmaßen in schöner Regelmäßigkeit für intraspezifische Gewalttaten verwendet. Selbst Tom und Jerry haben sich öfter vertragen als die Völker dieser Erde. “Es liegt wahrscheinlich einfach in der Natur des Menschen zu neiden und nach Macht zu streben. Diese Kooperationssache passt da vielen nicht ins Bild, auch wenn es wohl meist vorteilhafter gewesen wäre.” Qual blätterte um.

“Was ich nicht verstehe: Wenn ihr schon so etwas wie Staaten bildet, warum ziehen dann trotzdem gleich ganze Heere in den Krieg? Lasst doch die jeweiligen Oberhäupter gegeneinander antreten! Das Ganze kann man so vollkommen unblutig entscheiden, egal ob es um Ressourcen, Territorien oder unbezahlte Pizzarechnungen geht!” Ich stutzte: “Wie das?” “Schach! Ein klassisches Eins gegen Eins. Bei mehreren beteiligten Parteien wird es eben ein Turnier. Heißt ja nicht umsonst Spiel der Könige”, erklärte Qual augenzwinkernd.

Qual und das Glücksspiel

„Warum schaust du denn so bedröppelt?“, wunderte sich Qual, als ich zur Tür herein kam.

Ich legte den aktuellen Kontoauszug auf den roten Küchentisch und starrte ihn an. Die Zahlen darauf hatten denselben Farbton wie die Oberfläche, auf dem sich der Audruck nun befand.

„Warum schulden wir einer Gesellschaft in Marsaskala Geld für Glücksspiele im Internet?“, fragte ich scharf.

Qual wackelte verlegen mit der Flosse, spitzte ein wenig die Lippen und drehte sich mehrmals langsam um seine eigene Achse, um dann kleinlaut zuzugeben: „Ich hab es ja nur gut gemeint. Dein Geist war willig, aber sein Geist war schwach. Wenn auch nur für den einen, zugegeben entscheidenden, Moment. Ansonsten hat meine Theorie aber furchtbar gut funktioniert!“

Nun war ich neugierig. Eine ganze Reihe an Fragen schoss mir durch den Kopf, so dass ich vorerst vergaß, sauer zu sein. „Welche Theorie? Und was hast du überhaupt gespielt?“

Qual witterte seine Chance, mich weiter abzulenken und erzählte: „Online-Poker! Erschien mir etwas sicherer als Roulette, wer weiß was die für Zufallsprogramme haben. Und meine Theorie? Antizyklisches Verhalten! Was der Wirtschaft gut tut, kann auch bei unserer persönlichen Finanzpolitik nicht schaden. Habe immer so gespielt, wie es kein Mensch erwarten würde. Nur am Ende ging das jeweils schief.“

„Am Ende? Man gewinnt nun mal immer solange, bis man verliert. Du hast also nicht nur einen Moment lang nicht aufgepasst, sondern du warst im permanenten Spielfieber!“

Betreten schaute Qual auf den Boden.

„Aber lass mal, ich hab auch schon 30 Pfund beim Hütchenspiel in London verspielt“, gab ich zu.

„Hütchenspiel? Aber das sind doch Banden! Da hättest du höchstens mit antizyklischem Verhalten …“

Qual und die Fitness

Ich zog mir gerade im Flur die Schuhe an, als Qual gemächlich um die Ecke schwebte. “Wo willst du denn hin?”, fragte er. “Du wirst es nicht glauben, aber ich habe mich entschlossen nach draußen zu gehen!” Qual kam noch näher an mich heran. “Wieso das denn? Ist das Essen schon wieder alle?” “Nein. Schau mal. Sporthose, Sportshirt, Sportschuhe – klingelt es bei dir?” Ungläubig schaute er sich meine Ausstattung an. “Das ich das noch erleben darf.” “Ich weiß, ich habe auch lange mit meinem inneren Schweinehund gekämpft. Aber das Wetter ist inzwischen einfach zu gut für meine zu-kalt-zum-Laufen-Ausrede. Außerdem hab ich es auch langsam wieder nötig.”

Qual konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: “Gut, dass du es selbst sagst. Früher oder später hätte ich dich mit lustigen Spitznamen eh dazu getrieben.” Besorgt schaute ich ihn an. “Was wären das für Namen gewesen?” “Och, noch nichts Dramatisches. Angefangen hätte ich wohl mit “Der Herr der Schwimmringe”, “Fatman begins” oder schlicht “Der Blob”, übrigens ein chronisch unterschätzter Film von Weltklasse.” “So so, na bloß gut, dass mir das erspart blieb.” Qual kramte eine vergilbte Liste aus einem Schubfach. “Was hälst du von Schnitzelschlepper, Pommespummelchen oder Gorleben II?” “Durchaus kreativ. Wie dem auch sei, ich mach mich auf den Weg. Nicht umsonst sprach schon Darwin von dem “Survival of the Fittest”, ich laufe so gesehen also wortwörtlich um mein Leben.” “Schön gesagt. Allerdings gebrauchte Darwin den Begriff Fitness viel mehr im Sinne einer bestmöglichen Anpassung und meint damit nicht ausschließlich die physische Verfassung. Da ein athletischer Körper jedoch zurzeit in deiner Gesellschaft als erstrebenswertes Schönheitsideal durchgeht und du durch ein regelmäßiges Training dich diesem annäherst, ist der Vergleich durchaus zutreffend. Nun denn, frohes Schaffen. Aber bitte lauf ohne Kopfhörer, die Musik bringt dich aus dem Rhythmus und nichts ist nerviger als Jogger, die sich zu je einem Drittel singend, tanzend und irgendwie laufend vorwärts bewegen. Im schlimmsten Fall noch zur Titelmusik von Rocky.”

Qual und die Wellness-Oase

Beim Gewinnspiel eines örtlichen Spa & Beauty-Wohlfühltempels hatte die Jury aus allen eingesendeten Lösungen Quals Antwort als die beste auserwählt. Gefragt worden ist, was man für einen Raum zum Entspannen unbedingt benötigt. Qual: „Wände!“ Der Veranstalter bezeichnete seine Antwort bei der Bekanntgabe des Siegers als visionär und zukunftsweisend, als ultimative Form des Bewusstseins mit Blick auf das Wesentliche. Da Qual selbst nicht körperlich verwöhnt werden konnte, nahm ich den Preis, ein kostenloser Tag in erwähntem Wohlfühltempel, für ihn an. Nach den ersten Sauna-Gängen und einem ayurvedischen Allerlei trafen wir uns an der Cocktailbar. „Du hast echt was gut bei mir. Traumhaft! Gibt es eigentlich Tiere, die sich so behandeln?“

„Natürlich! Schimpansen sind Meister der Shiatsu-Ganzkörpermassage! Es gibt Tage, an denen sie sich permanent gegenseitig die Fußreflexzonen verwöhnen lassen. Oder Schildkröten! Wie oft sieht man Schildkrötenpaare verträumt am Strand entlang watscheln? Ständig! Im Mondschein tätschelt das Männchen dann in rhythmischen Bewegungen mit der zuvor in Kokosmilch getauchten Flosse liebevoll den Panzer des Weibchens, bis dieses eingeschlafen ist“, schilderte Qual. „Echt?“ „Nein, du Nase! Tiere müssen so etwas nicht tun, weil sie sich ihrem Bauplan entsprechend verhalten und dadurch eben keine Blockaden, Verrenkungen und Reizungen zuziehen. Die Natur hat nun einmal nicht vorgesehen, dass der Mensch zehn Stunden am Tag im Büro sitzt und auf Bildschirme starrt, während der Zeigefinger der rechten Hand mit der Maus alles anklickt, was sich bewegt.“ „Ich spiele schon lange nicht mehr Moorhuhn…“